«Die Rheingasse vereinigt alles, was das Grossbürgertum nicht wollte»

Kulturfloss-Kapitän Tino Krattiger graut es vor einer menschenleeren und verödeten Rheingasse. Jetzt will er die legendäre und neu verkehrsbefreite Gasse neu erfinden.

Tino Krattiger: «Aufgabe des Staates wäre es, Orte zur kulturellen Nutzung zur Verfügung zu stellen, nicht aber als Akteur aufzutreten.» (Bild: Hans-Joerg Walter)

Kulturfloss-Kapitän Tino Krattiger graut es vor einer menschenleeren und verödeten Rheingasse. Jetzt will er die legendäre und neu verkehrsbefreite Gasse neu erfinden.

Wer sich mit Tino Krattiger in der Basler Rheingasse oder am Rheinweg zum Gespräch trifft, muss sich mit zahlreichen kurzen Unterbrechungen abfinden. Kaum jemand, der den 53-jährigen Kulturfloss-Kapitän und ehemaligen SP-Grossrat nicht kennt und grüsst: Mit dem pensionierten Baselbieter Kulturbeauftragten Niggi Ullrich, dem Generalsekretär der Baselbieter Finanz- und Kirchendirektion, Michael Bammatter, und Crossair-Gründer Moritz Suter seien hier nur die drei Prominentesten genannt.

Für Krattiger, das wird schnell klar, war die Rheingasse auch noch zu Zeiten als Durchgangsstrasse längst Begegnungszone, zu der sie nun offiziell erklärt wurde. Zusammen mit der Anwohnerschaft, den Beizern, Hoteliers und allen anderen Geschäftstreibenden will er sich dafür einsetzen, dass die Strasse nicht zum unwirtlich toten Fleck auf dem Kleinbasler Stadtplan wird.

Sie lieben die Kulturarbeit an der frischen Luft. In den 1980er-Jahren haben Sie mit Ihrem Theater marat/sade den Kannenfeldpark bespielt, seit 15 Jahren betreiben Sie das Basler Kulturfloss. Was treibt Sie nach draussen?

Ganz banal musste ich raus, weil man mir mein Theater im Wildt’schen Haus geschlossen hatte – das Haus wurde renoviert. Zu Beginn ärgerte mich das, am Schluss wollte ich gar nicht mehr in Häusern arbeiten. Eine kleine Zwischenbemerkung: Ich führte übrigens nicht nur im Kannenfeldpark Theater auf, sondern auch in der Grün 80 und bei der Elisabethenkirche. Dort waren die Lärmemissionen aber etwas gar hoch. Dazu kam das Gebot der Stunde, dass sich alles mehr und mehr ins Zentrum verlagerte. Mit anderen Worten: Die Leute kamen nicht mehr zu mir in den Kannenfeldpark, was natürlich auch daran gelegen haben könnte, dass mein Theater zu schlecht war. So entstand die Idee mit dem Floss.

Na ja, noch hat es ein wenig Verkehr in der Rheingasse…

Wie meinen Sie das?

Man hätte einen Teil des nt/Areals als Kulturort belassen sollen. Es war falsch, das Gebiet einfach nur zur Wertsteigerung zwischennutzen zu lassen. Mir wurde das bewusst, als ich zum ersten Mal die Visualisierungen der Überbauung Erlenmatt sah: Jogger, lesende Menschen auf Bänklein, stillende Mütter, krabbelnde Kinder bevölkerten gesichtslose Parklandschaften. Später, als die ersten Häuser gebaut waren, aber auf dem Areal noch immer ein Kulturleben stattfand, erklärte mir ein deutscher Expat, dass er sehr gerne hier wohne – wegen des lebhaften Kulturbetriebs. Inzwischen hat sich das nt/Areal von einem spannenden urbanen Fleck zu einem öden Ort entwickelt.  

Und welche Lehren müsste die Politik aus Ihrer Sicht daraus ziehen?

Nicht das eine gegen das andere ausspielen. Also die Kinder in der Zwischennutzung ein wenig spielen lassen, bis dann der «Ernst des Lebens» in Gestalt hochwertigen Wohnraums die Bauklötzli-Brache ablöst. Wir sollten erkennen, dass die Expats aus grossen europäischen Zentren zu uns kommen und diesen Puls des Lebens geradezu suchen – für sie bietet so was wie das nt/Areal Lebensqualität und nicht die Landliebe in Hofstetten.

Der Staat tritt neuerdings auch als Akteur bei Zwischennutzungen auf, etwa auf der Klybeckinsel. Was halten Sie davon?

Ich fände es besser, wenn solche Initiativen von Privaten ausgingen. Aufgabe des Staates wäre es, Orte zur kulturellen Nutzung zur Verfügung zu stellen, nicht aber als Akteur aufzutreten. Dasselbe könnte man natürlich auch von den Buvetten sagen, die ja auch von der Verwaltung initiiert wurden. Auch hier handelt es sich um eine Art staatlich verordneter Bespielung des öffentlichen Raums. In diesem Fall schlucke ich aber diese Kröte, denn gar keine solchen Betriebe am Rhein zu haben wäre die bedeutend schlechtere Variante.

Könnte man also sagen: Früher fehlte das Bewusstsein für die Bedürfnisse der ausgehfreudigen Leute, heute dagegen wird die Bespielung des öffentlichen Raums vom Staat fast ein bisschen zu ernst genommen?

Ich würde es so sagen: Früher glaubte man, dass alles, was Lärm macht, in die Peripherie verbannt gehört. Das ist falsch: Das Leben gehört in die Stadt, auch wenn es ein bisschen lauter wird. Das lässt sich aber nicht staatlich verordnen. Ich gebe Ihnen ein persönliches Beispiel. Ich habe kürzlich meinen Innenhof für die Öffentlichkeit freigegeben. Heute wirtet hier das Café Acero. Es ist nun zwar etwas lärmiger geworden vor meinem Fenster. Aber dafür nutze ich endlich meinen Garten, denn ich muss nicht mehr alleine darin herumsitzen. Mir wird hier unten Kaffee serviert, ich führe interessante Gespräche, treffe schöne Frauen – das ist doch wunderbar. Dafür klagen jetzt meine Mieter über den Lärm (lacht).

Mit Protesten haben Sie einige Erfahrung als Floss-Kapitän. Sie stritten sich jahrelang mit Anwohnern, mussten Kompromisse eingehen und Abstriche machen, etwa was die Aufführungszeit und Musiklautstärke betrifft.

Das sind Märchen. Aber gut, können wir einmal darüber reden. Ich habe mir ja schon was überlegt, als ich hier angefangen habe.

Was denn?

Ich habe von Anfang an ein Vier-Säulen-Konzept verfolgt. Erstens: Die Leute sollen ohne Hindernisse hierher kommen können, die Konzerte müssen also gratis sein. Zweitens sollen die Besucher nicht den Verdacht haben, in einen Kultur-Event geraten zu sein. Drittens: Jeder soll wieder gehen können, wann immer er das will. Und viertens: Ich bespiele den unattraktivsten Zeitraum an Sommerabenden, nämlich von 20 bis 22 Uhr. Danach sollen sie sich anderswo weitervergnügen.

«Es ging mir oft sehr schlecht, weil ich das Gefühl hatte, dass ich alle nur störe.»

Trotzdem: Sie mussten für das Kulturfloss harte Kämpfe führen – bis vor Bundesgericht. Was denken Sie heute, wenn Sie auf diese Zeit zurückblicken?

Es ging mir damals oft sehr schlecht, weil ich das Gefühl hatte, dass ich alle immer nur störe. Leute in meinem Umfeld ermunterten mich aber immer wieder, weiterzumachen und zu kämpfen. Ich lernte hier, mit Konflikten im öffentlichen Raum umzugehen. Und heute ist das Floss fast heilig, es gehört den Baslern, alles wunderbar.

Vielleicht ist das Floss fast zu mehrheitsfähig geworden. Die Konzerte werden sogar als Stadtmarketing-Instrument benutzt. Haben Sie am Ende doch zu viele Kompromisse gemacht?

So, dass ich jetzt abdanken müsste? Richtig ist: Ich habe zurückgesteckt und die Zahl der Konzerttage reduziert. Aus finanziellen Gründen, aber auch um mich ein wenig vom Stress zu befreien.

Dafür halsen Sie sich jetzt mit der IG Rheingasse wieder neue Aufgaben auf.

Aber die Belebung der Rheingasse ist doch ein Superprojekt! Wenn ich etwas dazu beitragen kann, dass das funktioniert, dann muss ich es doch einfach machen. Das ist eine Frage der Leidenschaft.

Dann werden Sie also nicht mehr so oft an Ihren Zweitwohnsitz im Tessin fliehen?

Nein, dass mache ich nicht mehr. Der Tessin-Wohnsitz steht zum Verkauf (lacht).

Wenn Sie so weitermachen, sind Sie bald Kandidat für den «Ehrenspalebärglemer».

Nein, bitte nicht.

Immerhin trifft sich mittlerweile bei Ihren Floss-Eröffnungen alles, was Rang und Namen hat in dieser Stadt. Sie haben auch jeweils die höchste Regierungsratsdichte unter allen Events…

In der Verwaltung kursiert sogar das Gerücht, dass ich den «sexysten» Polit-Event veranstalte…

Dann droht Ihnen zumindest bald der Basler Kulturpreis.

Machen Sie mir keine Angst.

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