Sesshaft und heimatverbunden – die Pfahlbauer wurden nach ihrer Entdeckung zu Ikonen eines ursprünglichen Schweizertums geformt. Eine neue Ausstellung zeigt sie nun nicht nur als geschäftstüchtige Seeanstösser, sondern auch als frühe Alpenbewohner.
Die Pfahlbauer – ein ideales Ferienthema, eine ideale Destination für eine weite Zeitreise in die tiefe Vergangenheit. Man muss dafür nicht an einen der Schweizer Seen reisen, wo Pfähle – mal über, mal unter dem Wasserspiegel – als stumme und doch sprechende Zeugen früheren Lebens erhalten geblieben sind. Wir müssen auch nicht bis zu den Schneebergen hinaufsteigen, wo Spuren der fälschlicherweise nur als Flachlandbewohner verstandenen Urbevölkerung des nachmals schweizerischen Territoriums gefunden wurden.
Relikte der Pfahlbauer-Welt liegen jetzt in Bern in einer Ausstellung versammelt und sind bis im Oktober 2014 zu besichtigen. Teil davon ist ein kleiner Acker hinter dem Bernischen Historischen Museum mitten in der Stadt: Hier werden nach den mutmasslichen Methoden alte Erbsen- und Weizensorten angebaut und kann der ganze Wachstumszyklus mitverfolgt werden.
Ordentlich, massvoll und fleissig
Die Pfahlbauer sind – weit mehr als «Saurier» und «Ritter» – ein besonders wichtiger Teil unserer Vergangenheit, weil man in ihnen schweizerisches Wesen wiederzuerkennen geglaubt hat. In populärwissenschaftlichen Werken für Erwachsene, auf Schulwandbildern und in Jugendschriften (SJW) sind die Pfahlbauer als ordentliche, massvolle, fleissige, heimatliebende, sesshafte, dörflich organisierte und in Kleinfamilien lebende Menschen präsentiert worden.
Der Pfahlbauer dieses Typus hat ein ziemlich genau bestimmbares Geburtsdatum: Im Januar 1854 setzte mit der Entdeckung – eben – von Pfählen, aber auch von Steinwerkzeugen, Knochen und Scherben in Obermeilen am Zürichsee das erste Pfahlbauer-Fieber ein. Damals war der Winter besonders kalt und der Wasserstand besonders tief.
Die Entdeckung der Pfahlbauer bot 1854 die Chance, ein fast die ganze Schweiz umfassendes Kulturerbe als gemeinsame Basis unter die Füsse zu bekommen.
Inzwischen ist dieses Fieber abgeklungen, doch die Pfahlbauer sind immer wieder in unsere Gegenwart zurückgekehrt: 2004 (gewissermassen zu ihrem 150. Geburtstag) mit einer grossen Ausstellung des Schweizerischen Landesmuseums, 2007 mit der Life-Doku-Serie des Schweizer Fernsehens, 2011 mit ihrer Beförderung zum Unesco-Weltkulturerbe und jetzt, 2014, mit der grossen Berner Ausstellung. Eine Art Zwischenfieber gab es 2010, als am Bellevueplatz am Zürichsee, beim Bau eines Parkhauses sensationelle Siedlungsreste an den Tag kamen und diese für mindestens zwölf Millionen Steuerzahler-Franken ausgewertet wurden.
Die Entdeckung der Pfahlbauer war 1854 so wichtig, weil sie wenige Jahre nach der Gründung des neuen Bundesstaats von 1848 und dem vorangegangenen Bürgerkrieg die Möglichkeit bot, ein beinahe die ganze Schweiz umfassendes Kulturerbe als gemeinsame Basis unter die Füsse zu bekommen. Eine volkstümliche Basis, was dem damals aktuellen Bedürfnis mehr entsprach als die dem Bildungsbürgertum wichtige römische Schweiz.
Das Bild der Pfahlbauer hat sich weiterentwickelt. Insofern entspricht die Albert-Anker-Illustration nicht mehr ganz dem aktuellen Stand, und doch lebt sie als «falsches Bild» noch immer in unserer Seele. Die Vorstellungen sind inzwischen etwas entschweizert, die Nationalgrenzen, die es als solche damals noch gar nicht gab, sind entsorgt worden. Die Unesco-Anerkennung umfasst neben vier Thurgauer Standorten (Stichwort Bodensee) insgesamt 111 Pfahlbauten aus den sechs Alpenländern Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Schweiz und Slowenien.
Ein Berner Alpenjäger
Und die Berner Ausstellungsmacher betonen jetzt, dass neben den Seen auch die Alpen zum Lebensraum der Pfahlbauer gehörten. Sie haben besonderen Grund zu dieser Akzentsetzung, weil sie – erstmals, wie betont wird – die Ausrüstung eines jungsteinzeitlichen Jägers zeigen können. Und diese Relikte sind – wie ebenfalls betont wird – immerhin rund 1500 Jahre älter als die berühmte Eismumie Ötzi. Diese Objekte wurden im Hitzesommer 2003 auf dem Schnidejoch (2756 Meter ü.M.) vom fast ewigen Eis freigegeben. Der Berner Maler Albert Anker hat dieses Motiv 1886 mit seinem im Gebirge als Bogenschütze platzierten Pfahlbauer (Kunstmuseum Winterthur) quasi vorweggenommen. Der Pfahlbau-Fokus lag in letzter Zeit vielleicht zu stark auf der Ostschweiz und Zürich, jetzt ruft diese Ausstellung in Erinnerung, dass 50 der rund 450 schweizerischen Fundstellen auf oder in Berner Boden liegen.
Das ist wirklich neu. Die bisherigen Vorstellungen verstanden die Urbewohner als Seebevölkerung. Allerdings war diese Vorstellung grösstenteils unzutreffend, weil die Wasserpegel früher tiefer lagen, die Bauten zu einem grossen Teil auf dem Boden standen. Die Wasserlage machte die Funde aber attraktiver, weil sie doppelt versunken waren, nicht nur in alter Zeit, sondern auch im wirklichen Wasser. Naheliegend darum, von «Atlantis» im Zürich-, Bieler- oder Neuenburgersee zu sprechen.
Über die Sprache der Pfahlbauer wissen wir nichts. Aber es gab sie auch im heute französischsprachigen Raum, zum Beispiel im Raum von Gletterens am Neuenburgersee, dort nennt man sie «lacustres». Die dortige Pfahlbauromantik überbot womöglich sogar jene der deutschen Schweiz. So malte der Neuenburger Auguste Bachelin im Auftrag des hohen Bundesrats ein Pfahlbauerdorf für die Pariser Weltausstellung von 1867 – eine idyllische Metapher für die kleine Alpenrepublik im Herzen Europas. Der Genfer Hippolyte Coutau hat 1896 das bekannte Bild «Ein Abend im Pfahlbaudorf» beigetragen. Und der bekannte Muttenzer Historienmaler Karl Jauslin malte 1891 eine weitere Pfahlbauer-Idylle.
«Blut aus unserem Blute»
Um einem Angebot aus Amerika zuvorzukommen, kaufte der Bund 1884 die Privatsammlung mit Objekten, die der Arzt Victor Gross aus La Neuveville (BE) von den Ufern der Juraseen zusammengetragen hatte. Damit legte er den Grundstein für das später geschaffene Landesmuseum. Der Bundesrat begründete den Ankauf mit einer Argumentation, der nicht zu widersprechen war: «Das ist Blut aus unserem Blute, Leib aus unserem Leibe.» Der Kauf wurde als Ehrenpflicht gegenüber den eigenen Ahnen verkauft. Da man sich jedoch nicht gleich einigen konnte, wo das Landesmuseum stehen dürfe, stellte man die Relikte aus der Jungsteinzeit im höchstens 30 Jahre jungen Bundeshaus der ersten Generation aus.
Eine Eigenschaft, die man auch als typisch schweizerisch versteht, muss noch nachgetragen werden: Die Pfahlbauer sollen auch sehr innovativ gewesen sein. In einem heutigen Konsumentenblatt, das sich – nicht erstaunlich – ebenfalls des Themas angenommen hat, werden sie gelobt: «Mit Kuhmist im Lehm der Wände hielten sie Ungeziefer fern, die Balken der Häuser verbanden sie mit Seilen aus Bast. Die Töpfereien und Pfeilspitzen aus Feuerstein wurden immer kunstvoller. Sie trieben vermutlich Handel und wohnten wohl darum an Seen – der Gütertransport über das Wasser war einfacher als zu Land.» Das traditionelle Pfahlbauer-Bild sah in diesen Ahnen gegensätzliche Eigenschaften: Einerseits waren diese progressive Liberale und brachten sogar zivilisatorische «Revolutionen» zustande, andererseits waren sie genügsame Konservative.
Fernste Vergangenheit aus nächster Nähe
Über den Alltag der sogenannten Pfahlbauer (Essen, Kleidung, Gebrauchsgegenstände) wissen wir dank der Funde recht gut Bescheid. Was das «Bodenarchiv» aber kaum bietet, das sind Auskünfte über die religiöse und soziale Dimension des Lebens, obwohl, wie in Arbon (TG), an einzelnen Orten ganze Dörfer gefunden wurden.
Aber wir wissen nichts über die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau (siehe Bild), die Hierarchien der Lebensalter, die Ausbildung der Jungen, den Umgang mit Kranken oder die Jenseitsvorstellungen. Hingegen weiss man, dass auch zur ältesten Pfahlbauer-Zeit der Jahre 4500–2500 v. Chr. nicht nur gejagt und gesammelt, sondern auch angebaut, also gesät und geerntet, wurde. Hier haben wir die Anfänge der Bauern-Schweiz.
Heutige Forscher lehnen es ab, von Pfahlbauern zu sprechen und reden von «Feuchtbodensiedlungen im Uferbereich».
Vor zehn Jahren, anlässlich des grossen Pfahlbauer-Jubiläums, erklärte ein Experte, es gebe noch genug Forschungsarbeit für die nächsten Jahrhunderte. Zur Forschung gehört, neue Erkenntnisse zu entwickeln, aber auch alte, unzutreffende Annahmen zu beseitigen. Letzteres ist im vorliegenden Bereich kaum zu erreichen. Die vor 160 Jahren in die Welt gesetzte Vorstellung, dass draussen im Wasser auf gemeinsamen grossen Plattformen ganze Dörfer bestanden, lebt hartnäckig weiter, derweil die Forscher betonen, dass es sich um ziemlich normale Einzelhäuser gehandelt habe. Sie lehnen es ab, von Pfahlbauern zu sprechen und reden von «Feuchtbodensiedlungen im Uferbereich».
Das ungebrochene Interesse an dieser Zivilisation lebt nicht mehr vom spezifischen Vereinnahmungsbedürfnis des 19. Jahrhunderts. Vielmehr lebt es davon, fernste Vergangenheit aus nächster Nähe erleben zu können – und dass manches «da» und vieles nicht mehr «da» ist und Raum für Imagination lässt. Mag sein, dass im heutigen Interesse etwas Öko-Idealismus für noch intakte und nachhaltig genutzte Natur mitschwingt. Die «Pfahlbauer» verkörpern das Bild einer verlorenen Zeit und zugleich ein noch immer gültiges, mit der zunehmenden Verstädterung sogar wichtiger gewordenes Ideal.