Die Schweiz und die EU: Reset oder Realitätssinn?

Der neue Aussenminister will die Europa-Politik neu starten, die Rechtsnationalen die Kohäsionsmilliarde als Pfand gegen die Guillotine-Klausel einsetzen. Dabei vergessen sie, dass die Schweiz mit den bestehenden Verträgen gar nicht schlecht fährt.

Während der neue Aussenminister von einem Reset redet, macht Bundespräsidentin Leuthard mit Jean-Claude Juncker, Präsident der EU-Kommission vorwärts. (Bild: Reuters)

Es war einer der blödesten und leider auch eingängigsten Sprüche der letzten Monate: Ignazio Cassis erklärte als Nochnicht-Bundesrat, er werde in der schweizerischen Aussenpolitik die Reset-Taste drücken.

Reset? Damit man nicht selber im elektronischen Lexikon nachschauen muss: «Reset ist ein Vorgang, durch den ein elektronisches System in einen definierten Anfangszustand gebracht wird. Dies kann erforderlich sein, wenn das System nicht mehr ordnungsgemäss funktioniert und auf die üblichen Eingaben nicht reagiert.»

Die fällige Reaktion auf Cassis’ kühne Bemerkung wäre die Frage gewesen: Wo liegt denn der Anfangszustand, nicht der allgemeinen Aussenpolitik, sondern der Europapolitik, um die es bei diesem Spruch ging. Sollen wir zum EWR-Nein vom 6. Dezember 1992 zurückkehren, das vor 25 Jahren die Schweiz in die Isolation getrieben hat? Jener missliche Zustand konnte bekanntlich erst Ende der 1990er-Jahre mit den mühsam erarbeiteten Bilateralen I abgefedert werden.

Von der SVP ist weiterhin alles zu erwarten, was der Schweiz schadet.

Der Reset-Spruch wird an Cassis kleben bleiben. Sein weiterer Kurs, soweit er ihn überhaupt selber bestimmen kann, wird daran gemessen werden. Aber seien wir nicht zu hart mit dem armen Mann. Er meinte es ja nur gut, er ging davon aus, dass die Schweiz in Sachen Rahmenabkommen in eine Sackgasse gefahren ist und da irgendwie wieder raus muss.

Reset könnte auch bloss ein anderer Name sein für «alter Wein in neuen Schläuchen». Den neuen Schlauch hat man inzwischen gefunden. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat ihn beim neuen Namen genannt: Freundschaftsvertrag statt Rahmenabkommen.

Doch die SVP lässt sich so einfach nicht an der Nase herumführen. Von ihr ist weiterhin alles zu erwarten, was der Schweiz schadet: neben der «Landesrecht vor Völkerrecht»-Initiative auch die im Juni 2017 beschlossene Initiative gegen die Personenfreizügigkeit. Der Bundesrat hätte bei einer Annahme einer solchen Initiative ein Jahr Zeit, um ein Ersatzabkommen mit gänzlich eigenständiger Regulierung der Zuwanderung auszuhandeln, und wäre, falls dies nicht gelänge, gezwungen, das alte Abkommen aufzukündigen. Das ist eine MEI 2, das heisst eine Neuauflage der Masseneinwanderungsinitiative ohne Hintertüre.

Der Tanz um die Guillotine

Das Personenfreizügigkeitsabkommen ist im Paket der im Jahr 2000 mit 67,2 Prozent Stimmen angenommenen sieben Bilateralen I im Moment fest verankert, bei seiner Aufkündigung wegen der Guillotine-Klausel würden auch die übrigen sechs Abkommen (Handelshemmnisse, öffentliche Ausschreibungen, Landwirtschaft, Landverkehr, Luftverkehr und Forschung) hinfällig.

Was die Guillotine-Klausel bedeutet, erklärt dass Schweizer Aussenministerium: «Diese bestimmt, dass die Verträge nur gemeinsam in Kraft gesetzt werden können. Wird eines der Abkommen nicht verlängert bzw. gekündigt, werden auch die übrigen ausser Kraft gesetzt.»
Die Bilateralen I wurden als Paket verabschiedet, weil die Vertragspartner nicht bei allen Dossiers in gleichem Masse an den getroffenen Regelungen interessiert waren und nur die Gesamtheit mit einer Mischung von mehr oder weniger günstigen Abschlüssen beide Vertragspartner zufriedenstellte. Neuerdings will, wie die SVP bereits zuvor, die FDP-Präsidentin die Guillotine eliminieren.

Die Guillotine-Klausel ist die Regel, welche die Bilateralen unantastbar macht.

Petra Gössis Pfeil gegen die Guillotine-Klausel ist aber nicht, wie in der Presse vermutet, Anbiederung an die äussere Rechte, das ist – mangels einer eigenen Haltung – schlicht Übernahme der von dieser Seite stets lautstark erhobenen Forderung. Die Schwyzerin Gössi hat in ihrem Homeland-Blatt, der «Zentralschweiz am Sonntag» erklärt, bevor die FDP der Ostmilliarde zustimme, müsse die Guillotine-Klausel weg.  Das will auch ihr neuer Bundesrat.

Erstaunlich, dass die FDP-Präsidentin den Widerspruch nicht merkt, wenn sie «mit aller Vehemenz» auf die Abschaffung der Guillotine-Klausel hinwirken und zugleich «mit voller Kraft» die Bilateralen I verteidigen will, ist doch die Guillotine-Klausel gerade die Regel, welche die Bilateralen unantastbar macht.

Abschaffung der Guillotine-Klausel: Wie soll es so weit kommen? Vielleicht besteht die Hoffnung, die Gegenseite würde auf eine Paket-Lösung verzichten (und es wäre ein Verzicht), wenn man zu einem von der EU gewünschten Rahmenabkommen für alle bilateralen Beziehungen Hand böte.

Ein solches Pauschalabkommen müsste aber in der Schweiz die Zustimmung der eigenen Bürger und Bürgerinnen bekommen, und da trägt auch die FDP viel dazu bei, dass dies nicht eintreten wird. Das ist ein Reden ohne Boden unter den Füssen und bar jeglichen Realitätssinns.

Gössi meint, dass die Ostmilliarde ein einseitiges Geschenk sei und darum ein Gegengeschenk gefordert werden könne.

A propos Realitätssinn: In der Schweiz haben chronische EU-Gegner im vergangenen Jahr gejubelt als ein knappes Brexit-Ja zustande kam und haben Grossbritannien als Vorbild für eine harte Haltung gegenüber der EU gepriesen. Diese Leute sollten jetzt weiterhin und genau auf die Insel schauen, dann könnten sie bemerken, in welcher Realität die isolationistischen Fantasten angekommen sind.

Da ist noch etwas: Gössi meint wie alle Rechtsnationalen, dass die Ostmilliarde im Moment ein völlig einseitiges Geschenk an die EU sei und darum ein Gegengeschenk (Verzicht eben auf Guillotine-Klausel) gefordert werden könne. Wer so denkt, ist sich nicht bewusst, dass man damit eine zusätzliche Gabe verlangt, mit anderen Worten nochmals die Hand hinhält, nachdem man bereits ein erstes Mal etwas erhalten hat: nämlich den freien Zugang zum erweiterten Binnenmarkt!

Die Zweitauflage der Kohäsionsmilliarde, die genau genommen 1,3 Milliarden beträgt, hat die folgende Zweckumschreibung: 200 Millionen Franken sollen allen EU-Ländern und -Fonds für Migration zukommen. Und 1,1 Milliarden Franken sollen wie bisher für den Abbau wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheiten in den osteuropäischen Staaten eingesetzt werden.

Einen besonderen Fokus will der Bundesrat dabei auf die Berufsbildung und die Jugendarbeitslosigkeit legen. Die erste Phase der vergangenen zehn Jahre (seit 2007) ist einer eingehenden Evaluation unterzogen und über die Verwendung ist ausführlich Rechenschaft abgelegt worden.

Wir dürfen damit rechnen, dass trotz der Unvernunft der SVP die vernünftige Lösung zustande kommt.

Über die Kohäsionszahlungen ist vor ihrer Bewilligung schon einmal gestritten worden. Damals hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass es sich dabei um eine freiwillige Pflicht handelt und dass man nicht einseitig von der Erweiterung des Binnenmarkts auf Mittel- und Osteuropa profitieren kann, ohne sich an deren Kosten zu beteiligen. Statt Schweizer Geld in den grossen Kohäsionstopf der EU zu werfen, kaprizierte man sich jedoch auf gut kontrollierbare Separathilfe und versprach sich dabei zugleich noch einen direkten Gewinn für die eigene Industrie. Die EU liess das mit sich machen.

SVP und Auns hatten bereits die erste Tranche der Osthilfegaben und bereits damals erfolglos bekämpft und unterlagen im November 2006 einer zustimmenden Mehrheit von 53,4 Prozent. Die Voraussetzungen sind die gleichen geblieben, der Einsatz hat sich bewährt, es gäbe also (ausser der Politik des permanenten Wahlkampfs) keinen Grund, jetzt wieder Obstruktion zu betreiben.

Die SVP ist letzte Woche allerdings gescheitert bei ihrem Versuch, mit einer schnell-schnell Traktandierung ihrer Vorlage für ein Finanzreferendum die Verlängerung der Osthilfe zu sabotieren. So dürfen wir damit rechnen, dass trotz der Unvernunft der SVP die vernünftige Lösung zustande kommt.

Es stört die FDP verständlicherweise, dass die CVP-Bundespräsidentin den FDP-Aussenminister in die zweite Reihe stellt.

Und was macht die CVP inzwischen? Ihr Mitglied der Landesregierung trinkt mit Jean-Claude Juncker, dem Präsidenten der EU-Kommission, bei einem heimlichen Frühstück Kaffee oder Tee. Das war dann fast so etwas wie ein informelles Mini-Gipfeli.

Es stört die FDP verständlicherweise, dass die CVP mit ihrer Bundespräsidentin dadurch den FDP-Aussenminister in die zweite Reihe stellt. Sicher nicht gut war, dass Urs Bucher, der Diplomat, der die Schweiz in Brüssel vertritt, nicht dabei war. Es ist jedoch unvorstellbar, dass bei dem Tête-à-Tête der C-Grössen (C für die sich christlich nennenden Volksparteien) etwas Abträgliches oder gar Unanständiges gelaufen ist.

Aber wir haben ein institutionelles beziehungsweise protokollarisches Problem. Spitzentreffen zwischen Regierungsspitzen und Spitze der Kommission (die ja ebenfalls eine Art von Regierung ist) sind offenbar vermehrt zu einem allerseits vorteilhaften Management-Instrument geworden – mit der Nebenwirkung, dass die Aussenminister entsprechend abgewertet wurden.

Verrat beim Frühstück?

Wem jeder Kontakt, der die Verständigung zwischen Repräsentanten der Schweiz und der EU fördert, suspekt ist, wittert in diesem Frühstück Verrat und Verfassungsbruch. Ein solches Frühstück sei in der Bundesverfassung nicht vorgesehen. Die Schweiz kennt keinen Regierungschef und nicht wie die anderen Länder ein Staatsoberhaupt. Sie kennt eigentlich nur für ein Jahr Vorsitzende eines Kollegiums.

Bis 1914 war das Aussenministerium, weil bloss mit wenigen und in hohem Masse protokollarischen Aufgaben betraut, stets an das rotierende Bundespräsidium gebunden. Davon ist man zu Recht abgekommen. Auch dazu braucht es keinen Reset. Was es vor allem gegen aussen braucht, ist eine Landesregierung, die – mit oder ohne Frühstück – am gleichen Strick zieht.

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