Der Traum von einer neuen, besseren Weltordnung dauerte nur kurz. Jetzt ist der Konflikt zwischen Ost und West neu entbrannt. Die «westlichen Werte» werden auf die Probe gestellt – auch im Westen selbst.
Als die deutsche Kanzlerin Angela Merkel kürzlich nach Budapest reiste, prallten Westen und Osten aufeinander. Der autoritäre ungarische Staatschef Viktor Orban musste sich gemäss Pressekonferenz Dinge anhören, die ganz und gar nicht seiner Politik entsprachen. Die Kanzlerin rief das westliche Gesellschaftsmodell in Erinnerung: Eine Demokratie brauche Opposition als Korrektiv, sie brauche eine Zivilgesellschaft, sie brauche Medienfreiheit und sie brauche den Wettbewerb um den besten Weg. Am Vorabend hatten ungarische Bürgerinnen und Bürger auf der Strasse ihre Stimme erhoben und die starke Frau des Westens aufgefordert, sie nicht zu vergessen.
Orban dagegen probt den Widerstand gegen den Westen, indem er sich offen an Russland anlehnt, wo ihn Putin gemäss bekannter Reiseagenda in vierzehn Tagen wohl mit offenen Armen empfangen wird. Es ist in diesem Fall, als ob Jahrzehnte der russischen Repression (Stichwort: Aufstand von 1956) nicht stattgefunden hätten. Aber es ist auch nicht weiter verwunderlich, dass sich rechtsnationale Kräfte, wie man es beim französischen Front National bereits gesehen hat, von Russland unterstützen lassen. Letztlich ebenso wenig verwunderlich, wenn auch noch gewöhnungsbedürftig, ist, dass die linkspopulistische Equipe des griechischen Syriza-Bündnisses mit ihren guten Beziehungen zu Russland die EU unter Druck setzt.
Der Traum von der neuen Weltordnung
Mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums 1989 schien der Westen als Sieger aus der Geschichte hervorgegangen zu sein und sich eine neue, eine bessere, ja eine gute Weltordnung zu etablieren. Nicht nur die mittel- und osteuropäischen Gesellschaften wollten möglichst schnell Mitglieder der westeuropäischen Gemeinschaft werden. Ungarn trat 1990 als erstes Land des ehemaligen Ostblocks dem Europarat bei. Russland, dessen Stimmrecht im Europarat wegen der Krim-Annexion zurzeit auf Eis liegt und das nun mit dem Austritt droht, folgte 1996. In Russland hatten Umfragen längere Zeit hohe Zustimmung sogar für einen EU-Beitritt ergeben. Noch 2012 begrüssten 32 Prozent einen schnellen EU-Beitritt innerhalb von fünf Jahren (mehr als in der Schweiz). Dieser Wert ist inzwischen allerdings stark gefallen.
Symptomatisch für die frühen 1990er-Jahre war die Weltdeutung des Harvard-Politologen Samuel Huntington, der 1993 mit viel Resonanz die Meinung verbreitete, dass an die Stelle des weggefallenen Ost-West-Konflikts nun ein kultureller beziehungsweise religiös mitbestimmter Antagonismus zwischen Zivilisationen getreten sei, dies vor allem auf der Nord-Süd-Achse. Was den Ost-West-Gegensatz betrifft, hatte sich der amerikanische Regierungsberater getäuscht, hingegen konnte er für sich beanspruchen, die zunehmende Verteufelung des Westens durch einen Teil der muslimischen Welt vorausgesehen zu haben.
Terraingewinne eines westlichen Gesellschaftsverständnisses sind für die russische Herrschaftskultur eine Bedrohung.
Bleiben wir jedoch auf der Ost-West-Achse. Keine Frage, dass die Gegensätze inzwischen wieder stärker geworden sind und das alte Bild zweier polarisierter Lager erneut an Bedeutung gewonnen hat: Osten gegen Westen und Westen gegen Osten. Dabei scheint unklar zu sein, wer sich expansiv und wer sich defensiv verhält. Es geht gewiss um reale Machtfragen, der Konflikt wird aber auch ideologisch ausgetragen. Terraingewinne eines westlichen Gesellschaftsverständnisses sind oder wären für die russische Herrschaftskultur eine Bedrohung. Auf die westliche Kritik am russischen Nationalismus reagiert Putin mit verächtlichen Bemerkungen über die angebliche Dekadenz des Westens.
Wer in diesem Westen lebt, soll sich durchaus angesprochen fühlen. Die Polemik soll Anlass sein, darüber nachzudenken, was daran allenfalls berechtigt und was uns am sogenannten Westen wichtig ist. Dabei darf uns in den Sinn kommen, dass der Westen ein widersprüchliches Gebilde ist und zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Westen keine selbstverständliche Übereinstimmung herrscht.
Selbstkritik als konstitutive Kraft
Wenn man die Kraft zur Selbstkritik aufbringt, darf man das im Bewusstsein tun, dass dies eine konstitutive Eigenschaft und Kraft des Westens ist. Woran soll man dabei denken? Vielleicht an die Neigung, das eigene Zivilisationsverständnis zu verabsolutieren (man hat ja schliesslich der Welt gewissermassen die Aufklärung gebracht); aber auch die Neigung, die selbstproduzierten Widersprüche zwischen Idealen und Praxis grosszügig zu übersehen und damit auch die Verantwortung, die der Westen, der zugleich Norden war und ist, für den formellen wie den informellen Kolonialismus hat.
Wir, die im sogenannten Westen leben, halten diesen schneller für gefährdet als für gefährlich. Gefährdet erschien er fast schon immer aus dem Osten und in jüngerer Zeit auch aus dem Süden. Je mehr wir aber die schwache Seite des Westens sehen, desto eher sind wir in der Lage, die starke Seite hochzuhalten. Was den Westen im Guten und Unguten ausmacht, können wir normativ ethisch festlegen. Wir können es aber auch historisch herleiten und damit den normativen Aussagen realen Boden geben.
Dabei kann uns die vom Berliner Historiker Heinrich August Winkler von der Humboldt-Universität verfasste «Geschichte des Westens» helfen. Soeben ist sein vierter und letzter Band «Die Zeit der Gegenwart» (1991–2014) erschienen. Mit seinem vor 2009 begonnenen und auf gegen 5000 Seiten angewachsenen Werk, das sich auch an das grössere Publikum richtet, kommt dieses Angebot sozusagen zur rechten Zeit.
Für Winkler war klar, dass der Westen ein pflegens- und verteidigenswerter Kulturraum ist. Dieser habe aber einen «langen Weg» gebraucht, um «Westen» zu werden, einen Weg über die Aufklärung und die Amerikanische und Französische Revolution. Dem deutschen Historiker war klar, dass sein Deutschland einen besonders langen Weg brauchte, um sich das anzueignen, was der westliche Westen entwickelt hatte.
Geschichte mit dunklen Kapiteln
Und nun gibt es ihn offenbar, den Westen, nicht nur als Idee, sondern als sozio-politische Realität, und mit ihm die von Angela Merkel in Budapest in Erinnerung gerufene Rechtsstaatlichkeit, die wenigstens als Prinzip vorgegebene Achtung des Individuums und insbesondere die mehr oder weniger erreichte Trennung von Kirche und Staat. Winkler zeigt, dass auch die Kirchen des Westens einen längeren Weg zurücklegen mussten, dass ihre Religion jedoch kein Negativposten war und einen wichtigen Beitrag in der Entwicklung des heutigen Wertekanons geleistet hat. Die Reformation wird für den westlichen Weg allerdings zu schwach, dagegen der Buchdruck zutreffend als «epochale Zäsur» gewürdigt.
In dieser Geschichte werden die dunklen Kapitel des Westens nicht ausgespart, die Juden- und Hexenverfolgungen, die Sklavenhaltung, die Unterdrückung der Frauen, der Kolonialismus. Winkler zeigt mit seiner Geschichte, dass der Westen nicht bloss eine ideologische Fiktion ist und es nicht damit getan ist, floskelhaft westliche Werte zu beschwören oder sogar, wie die Pegida-Bewegung es mit dem letzten Buchstaben gemacht hat, unabendländisch das «Abendland» für sich in Anspruch zu nehmen.
Wir sollten sorgen, dass das Projekt im Westen selber seine Kraft behält.
In seinem abschliessenden Ausblick widersteht Winkler nicht der Versuchung, den westlichen Werten universelle Bedeutung zu geben und den Wunsch auszudrücken, dass sich das «normative Projekt des Westens» mit den Ideen der unveräusserlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie langfristig nicht auf den Westen beschränke, dies aber wohl weniger als aktiv vertriebenes Exportprodukt und eher als von seiner Ausstrahlung lebende Attraktion.
Trotzdem sollten wir uns nicht dazu verleiten lassen, wie das eine Präsentation von Winklers Buch getan hat, jetzt kühn zu meinen, dass die Sonne im Westen aufgehe. Wir sollten vielmehr dafür sorgen, dass das Projekt im Westen selber seine Kraft behält.