Die staatstheoretischen Gedanken von Jean-Jacques Rousseau

Am 28. Juni 1712 kam Jean-Jacques Rousseau in Genf zur Welt. Bis zum Jahrestag erinnern wir an bemerkenswerte Schriften des Philosophen und Pädagogen. Im zweiten Teil dieser Serie widmen wir uns seinem Gesellschaftsvertrag, worin er festhält, dass sich politische Entscheide nicht von Einzelinteressen leiten lassen dürfen.

Ein Vordenker unserer direkten Demokratie: Jean-Jacques Rousseau. (Bild: Artwork Nils Fisch)

Am 28. Juni 1712 kam Jean-Jacques Rousseau in Genf zur Welt. Bis zum Jahrestag erinnern wir an bemerkenswerte Schriften des Philosophen und Pädagogen. Im zweiten Teil dieser Serie widmen wir uns seinem Gesellschaftsvertrag, worin er festhält, dass sich politische Entscheide nicht von Einzelinteressen leiten lassen dürfen.

«Der Gemeinwille liegt immer richtig …»

Der innerste Antrieb von Rousseaus Denken besteht in der Diagnose gesellschaftlicher Missstände (wovon ein Aspekt im ersten Teil dieser Serie dargelegt wurde). Der Anspruch seines Denkens besteht aber auch darin, einer Lösung von diesen zuzuarbeiten. In seiner produktivsten Schaffensphase zwischen 1752 und 1762 entwickelt Rousseau zwei Instrumente gegen die von ihm bemängelte entfremdete Gesellschaft: Den Staat und die Erziehung.

Dabei ist der Staat freilich keine Erfindung Rousseaus; vielmehr geht es ihm darum – und das ist mitunter die Grundlage der Politischen Philosophie –, eine Staatsform zu finden, die einen guten Staat zu gewährleisten vermag. Das Grundproblem kann dabei folgendermassen skizziert werden: Da politische Entscheide (im Unterschied zu individuellen) für alle Mitglieder eines Gemeinwesens gleichermassen gelten, wird von ihnen Legitimität eingefordert. Um grösstmögliche Legitimität zu erreichen, stützen sich politische Systeme auf festgelegte Regeln und Prozeduren (z.B. periodische Wahlen, Gewaltenteilung). Wie diese Prozeduren und Institutionen bestmöglich ausgestaltet werden können, ist Gegenstand der Politischen Philosophie.

Direktdemokratische Mitbestimmung

Nun weist das politische System, das Rousseau in seiner staatstheoretischen Hauptschrift «Du contrat social» (auf Deutsch hier zugänglich) vorschlägt, frappierende Ähnlichkeiten mit dem unseren auf: Es baut nämlich fundamental auf die direktdemokratische Mitbestimmung der Bürger des Gemeinwesens. Um nicht zu einem zahnlosen Gremium zu verkommen, das seine Rolle als Ordnung schaffendes Instrument nicht erfüllen kann, müssen im Staat Entscheidungen gefällt werden, was nach Rousseau durch die Bildung eines Gemeinwillens (volonté générale) geschieht, dem dann Folge zu leisten ist. Der springende Punkt von Rousseaus Konzept: Der Gemeinwille unterscheidet sich vom Gesamtwillen (volonté de tous). Doch was ist damit gemeint?

Unter dem Gesamtwillen versteht Rousseau die Summe der Einzelinteressen der Bürger, unter dem Gemeinwillen dagegen einen allgemeinen Willen, der vom Gewinnstreben Einzelner unterschieden ist; der Gemeinwille geht von der Frage aus, was für alle Mitglieder des Gemeinwesens gut wäre. Zentral in Rousseaus Konzeption ist demnach der Gedanke, dass ein politischer Entscheid nie von partikularen Interessen ausgehen oder aus ihnen zusammengesetzt werden kann.

Dies können wir auf unser politisches System übertragen: Die Erkenntnis, dass es etwas fundamental Anderes ist, ob man sich Gedanken dazu macht, was einem selbst Vorteile bringt, oder ob man sich überlegt, was für alle gut wäre, sollte sich im Abstimmungsverhalten der Bürger wiederspiegeln. Wenn wir über eine Vorlage abstimmen, dann sollten wir uns bei der Entscheidung nicht davon leiten lassen, welche Vor- oder Nachteile uns diese Vorlage persönlich bringt oder ob sie unserem Glauben entspricht, sondern ob wir es im Allgemeinen für gut befinden, dass diese Vorlage umgesetzt wird – gegebenenfalls auch zu unserem individuellen Nachteil. Es ist die Pflicht des citoyen, sein persönliches Gewinnstreben hinten anzustellen und im Namen der Gemeinschaft zu urteilen.

Freiheit als höchstes Gut

Trotzdem erliegt Rousseau nicht der Vision, dass damit die Vernünftigkeit der Entscheidungen absolut garantiert wäre, doch eine Bevormundung durch den Staat oder gar die Wahl von Vertretern sind für ihn undenkbar, da sie Freiheitseinbussen zur Folge hätten, und die Freiheit ist für Rousseau das höchste Gut. Demgemäss endet der eingangs zitierte Satz auch mit einer Einschränkung des Vertrauens in den Gemeinwillen: «…aber das Urteil, das ihn leitet, ist nicht immer aufgeklärt.»

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