Das Pontifikat von Papst Franziskus wurde vor 20 Jahren in der Schweiz angebahnt. Auf der Synode in Rom versuchen die progressiven Bischöfe nun die katholische Kirche auf einen neuen Kurs zu bringen.
Als Papst Franziskus am 13. März 2013 frisch gewählt von der Loggia des Petersdoms spricht, bezeichnet er sich als Mensch «vom anderen Ende der Welt». Das ist der eine Teil der Geschichte über diesen Aussenseiter auf dem Stuhl Petri, der dabei ist, das Gesicht der katholischen Kirche zu verändern.
Jorge Mario Bergoglio, der Anwalt der Armen aus Buenos Aires, jetzt Unruhestifter in Rom. Der andere Teil der Geschichte liegt wesentlich näher. Genauer gesagt, hat Franziskus seinen Aufstieg zum Nachfolger Petri nicht zuletzt einer Tafelrunde zu verdanken, die über Jahre hinweg in der Schweiz zusammenkam.
Es ist im Jahr 1996, als Ivo Fürer, der kurz zuvor ernannte Bischof von St. Gallen, erstmals ein Treffen unter gleichgesinnten Prälaten organisiert. Fürer ist Sekretär des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen, der seinen Sitz in St. Gallen hat. Dieser Rat gründete sich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, um den europäischen Ortskirchen mehr Gewicht zu verleihen. Aus diesem Geist heraus will Fürer im kleinen Rahmen Gleichgesinnte zusammenbringen. «Das waren ganz freundschaftliche und freie Aussprachen. Jeder konnte sagen, was er denkt. Es gab weder ein Protokoll noch eine Tagesordnung», erzählt der inzwischen 85 Jahre alte Bischof.
Vom Frühstück bis zum Rotwein
Bei ihrem ersten Treffen kommen die Mitbrüder ausnahmsweise in Deutschland zusammen. Der damalige Bischof von Rottenburg-Stuttgart Walter Kasper ist der ausrichtende Gastgeber, er lädt die Runde in das malerische, mittelalterliche Zisterzienserkloster Heiligkreuztal ein. Mit dabei ist der charismatische Jesuit und Erzbischof von Mailand, Kardinal Carlo Maria Martini, der spirituelle Führer der Gruppe. Der niederländische Bischof von Helsinki Paul Verschuren kommt, Bischof Jean Vilnet aus Lille, Bischof Johann Weber aus Graz-Seckau, zudem Kasper und der damalige Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz Bischof Karl Lehmann aus Mainz.
Die sieben Männer speisen gemeinsam, feiern zusammen die Messe und tauschen sich aus. Knapp zwei Tage verbringen sie miteinander im Kloster.
Der damalige Weihbischof von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, ist damals noch keinem der Teilnehmer ein Begriff. Aber die Themen der in aller Abgeschiedenheit und Reserviertheit tagenden Runde könnten von einem Notizzettel auf dem Schreibtisch von Papst Franziskus stammen.
Es geht bei den Gesprächen, die vom Frühstück bis zum Rotwein spät am Abend dauern, unter anderem um das Übel des römischen Zentralismus, um die Aufwertung der Rolle der Bischofskonferenzen, um Sexualmoral, um die Qualität und die Berufung von Bischöfen und um die Kollegialität.
«Was Franziskus heute umzusetzen versucht, entspricht in hohem Masse den Gedanken, die wir damals hatten.»
Es sind Themen, die auch bei der seit Sonntag im Vatikan tagenden Familiensynode mitklingen. Dort sollen sich etwa 250 Bischöfe über das katholische Verständnis von Familie und Ehe in der modernen Gesellschaft Gedanken machen.
Es geht dabei um ganz konkrete Fragen wie die Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion oder den Umgang mit Homosexuellen – Themen, die auch die «Gruppe St. Gallen» beschäftigten. Letztlich bündeln sich in der Synode zahlreiche Wünsche, die diese Geistlichen schon vor knapp 20 Jahren im privaten Rahmen formulierten.
Bei dem Bischofstreffen im Vatikan geht es darum, ob die Bischöfe in Fragen der Seelsorge mehr Eigenständigkeit bekommen und ob die Bischofskonferenzen die Leitlinien der Synode auf ihre eigenen gesellschaftlichen Umstände anwenden dürfen. «Was Franziskus heute umzusetzen versucht, entspricht in hohem Masse den Gedanken, die wir damals hatten», sagt der heute 82 Jahre alte Walter Kasper, er ist seit 2001 Kardinal.
Der ungeliebte Zentralismus Ratzingers
Ab 1997 kommt die Gruppe stets Anfang Januar in der Schweiz, meist im bischöflichen Palais von St. Gallen zusammen. Der ungeliebte römische Zentralismus wird in den Augen der wechselnden Teilnehmer nicht zuletzt vom damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger, verkörpert.
Papst Johannes Paul II. ist ständig auf Reisen, die Zügel in Rom hält Ratzinger in der Hand. Dieser hatte in den Neunzigerjahren insbesondere mit Kasper eine Debatte über das Verhältnis von Ortskirchen und Universalkirche geführt, die er als Wächter über den katholischen Glauben autoritär zugunsten des Vatikans entschied.
«Ihr gemeinsamer Nenner ist die Überzeugung, dass das Gewicht Ratzingers in den letzten Jahren des Pontifikats Wojtylas die zentralistischen und restaurativen Kräfte stärkt», heisst es über die St.-Gallen-Gruppe in der autorisierten und gerade auf Französisch erschienenen Biografie des als besonders liberal bekannten belgischen Kardinals Godfried Danneels.
Danneels zählt seit 1999 zum Kreis, der sich im selben Jahr im Benediktinerkloster von Fischingen versammelt. Von der Existenz dieser halboffiziellen Männerrunde erfährt die Öffentlichkeit erst jetzt.
Die Tafelrunde bestimmt jetzt mit
Als Danneels, der ehemalige Primas der katholischen Kirche in Belgien, vor Kurzem bei der Präsentation seiner Biografie ironisch von den St. Gallern als einer «Mafia»-Gruppe sprach, die in Rom Verdacht weckte, war die Aufregung bei konservativen Katholiken gross. Danneels ist unter anderem wegen seiner Rolle im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche in Belgien umstritten, 2010 riet er einem Opfer davon ab, seinen sexuellen Missbrauch durch einen belgischen Bischof, den Onkel des Opfers, öffentlich zu machen. Franziskus nominierte Danneels nun bereits zum zweiten Mal für eine Synode.
Auch Kasper, der Wortführer einer Öffnung bei der Debatte um wiederverheiratete Geschiedene, wurde vom Papst berufen. Die Mitglieder der damaligen Tafelrunde bestimmen heute die Agenda der katholischen Kirche mit.
Vertrauen in Bergoglio
Bergoglio taucht erst im Jahr 2001 auf dem Radar der Gruppe auf. Zusammen mit Kasper, Lehmann und dem Erzbischof von Westminster, Cormac Murphy-O’Connor, der wie andere Bischöfe neu zur Gruppe gestossen ist, wird Bergoglio im Februar 2001 zum Kardinal berufen. Im Oktober ist der Argentinier Berichterstatter bei der Synode, die das Wesen des Bischofsamts zum Thema hat.
Die Schweizer Runde wird bei dieser Gelegenheit auf ihn aufmerksam, wegen seiner geschickten und kollegialen Art erweckt der Argentinier Vertrauen. «Die Anerkennung beruht auf Gegenseitigkeit», heisst es in der Danneels-Biografie von Jürgen Mettepenningen und Karim Schelkens.
Als sich der Gesundheitszustand Johannes Paul II. in den folgenden Jahren rapide verschlechtert, machen sich die Mitglieder der St.-Gallen-Gruppe bei ihren Treffen auch Gedanken über die Nachfolge. Namen seien nie gefallen, behaupten einige Teilnehmer von damals vehement.
Eine Postkarte aus Rom
Als Johannes Paul II. am 2. April 2005 stirbt, wird die Frage akut. Ratzinger wünschen sich die Schweizer Tafelritter offenkundig nicht als neuen Papst. «Wir waren eine freundschaftliche Suchbewegung, die sich über die Kirche und ihre Probleme Gedanken gemacht hat», erzählt der ehemalige Salzburger Erzbischof Alois Kothgasser, der ab 2002 zur Reform-Gruppe gehörte.
Programmatische Aktionen, konkrete Aktivitäten oder Seilschaften zur Unterstützung eines Kandidaten beim Konklave habe es in St. Gallen nie gegeben. Gerüchte, die Gruppe habe gegen Joseph Ratzinger gearbeitet, entbehrten jeder Grundlage, lässt Kardinal Lehmann wissen, der bereits seit der Jahrtausendwende nicht mehr zum Kreis gehört.
2005 informieren die St. Galler Bergolio über ihre Pläne. «Ich verstehe», antwortet der.
Gründungsmitglied Ivo Fürer berichtet gleichwohl, dass bei den Diskussionen über die Nachfolge auch Namen genannt wurden, ohne dass sich die Teilnehmer auf einen Kandidaten festlegten. «Auch der Name Bergoglio ist gefallen», sagt Fürer. Kurz vor dem Konklave im April 2005 schreiben die Kardinäle ihm, der als Diözesan-Bischof kein Wahlrecht hat, eine Postkarte aus Rom. Nur ein Satz steht darauf, er lautet: «Wir sind hier im Geist von St. Gallen.»
Acht einflussreiche, der St.-Gallen-Gruppe nahestehende Kardinäle warfen damals ihr Gewicht und ihre Beziehungen in die Waagschale. Martini, Danneels, Kasper, Lehmann, Murphy-O’Connor, der Italiener Achille Silvestrini, der Lissaboner Patriarch José da Cruz Policarpo sowie der Ukrainer Lubomyr Husar.
Im Konklave, das den Favoriten Joseph Ratzinger zum Nachfolger Johannes Paul II. kürt, gibt es einen zweiten Protagonisten. Nach einem vom Vatikanjournalisten Lucio Brunelli veröffentlichten Tagebuch eines Kardinals erhält Jorge Mario Bergoglio die meisten Stimmen nach Ratzinger. Im dritten Wahlgang stimmen sogar 40 Kardinäle für den Argentinier. Es droht ein Patt, Ratzinger fehlen die notwendigen Stimmen zur Zweidrittelmehrheit. Aber Bergoglio zieht sich zurück, der Deutsche wird Papst.
Im Januar 2006 kommt die auf nur noch vier Mitglieder geschrumpfte Gruppe zum letzten Mal zusammen, auch weil Fürer im Oktober altersbedingt als Diözesanbischof von St. Gallen zurückgetreten ist. Acht Jahre lang gehen die Bischöfe und Kardinäle des Kreises in eine Art innere Emigration. Dann kündigt Benedikt XVI. am 11. Februar 2013 völlig überraschend seinen Rücktritt an.
Dankbar für die Kirche unter Franziskus
St. Gallen ist zu diesem Zeitpunkt nur noch eine angenehme Erinnerung für die ehemaligen Mitglieder des Kreises. Aber nun, angesichts einer von Skandalen wie «Vatileaks» gebeutelten Kirche, bietet sich unverhofft eine neue Chance für die Reformer. Wie Austen Ivereigh, der ehemalige Sprecher von Kardinal Murphy-O’Connor, in seiner Franziskus-Biografie «The Great Reformer» aus dem Jahr 2015 schreibt, ergreifen die «europäischen Reformer» erneut die Initiative und lancieren mit Hilfe einiger Kardinäle aus Lateinamerika ein zweites Mal Bergoglio als Kandidaten.
Schon 2005, so heisst es, habe sich diese Fraktion vergeblich für Bergoglio stark gemacht. Eine der führenden Figuren der St. Galler Treffen, Kardinal Murphy-O’Connor, weist den Argentinier vor dem Konklave 2013 ausdrücklich auf den Plan hin. «Ich verstehe», antwortet Bergoglio. So zumindest beschreibt Ivereigh die Szene. Wenig später ist der Argentinier Papst.
Die katholische Kirche befindet sich seither in einem mühsamen Wandlungsprozess, um den auch auf der Synode gerungen werden wird. «Ich bin sehr positiv und dankbar berührt, wie die Kirche jetzt unter Franziskus ist», sagt ein alter Bischof, der auch damals in der Schweiz mit dabei war. Der Geist von St. Gallen ist längst im Vatikan zu Hause.
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