Die Türkei und die EU – eine neue Ära? Analyse

Die EU will die eingeschlafenen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beleben, denn Europa braucht das Land in der Flüchtlingskrise. Aber wie realistisch ist Ankaras EU-Perspektive? Unser Korrespondent mit einem Hintergrund.

Turkish Prime Minister Ahmet Davutoglu (L) and European Council President Donald Tusk greet each other after a news conference following a EU-Turkey summit in Brussels, Belgium November 29, 2015. REUTERS/Yves Herman TPX IMAGES OF THE DAY

Die EU will die eingeschlafenen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beleben, denn Europa braucht das Land in der Flüchtlingskrise. Aber wie realistisch ist Ankaras EU-Perspektive? Unser Korrespondent mit einem Hintergrund.

Lange herrschte Funkstille zwischen Ankara und Brüssel. Jetzt kommt Bewegung in die festgefahrenen Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der EU. Der Grund: Europa braucht das Land – der Schlüssel zur Bewältigung der Flüchtlingskrise liegt in Ankara.

Mitte Dezember eröffnete die EU nach zweijähriger Pause erstmals ein neues Kapitel in den Beitrittsverhandlungen, das zur Wirtschafts- und Währungspolitik. Die EU-Kommission hat Ankara für das kommende Jahr bereits die Eröffnung fünf weiterer Kapitel in Aussicht gestellt. Damit bekommen die fast eingeschlafenen Beziehungen zwischen der Türkei und der EU plötzlich eine ungeahnte Dynamik – die Flüchtlingskrise macht es möglich: Die Eröffnung weiterer Verhandlungskapitel ist eine der Bedingungen, von denen die Regierung in Ankara eine engere Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage abhängig macht.

Kein Land sitzt so lange im Wartezimmer Europas wie die Türkei.

Sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel, bisher eine strikte Gegnerin einer türkischen EU-Mitgliedschaft, versprach bei einem Blitzbesuch in Istanbul im Oktober dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan eine Intensivierung der Beitrittsgespräche. Der Eröffnung des Kapitels 17 wecke «neue EU-Hoffnungen» für die Türkei, meldete jetzt die Zeitung «Hürriyet».

Kein Land sitzt so lange im Wartezimmer Europas wie die Türkei. Schon 1989 beantragte das Land die Aufnahme. Ende 2005 wurden die Beitrittsverhandlungen aufgenommen, nachdem das Land einige Reformen wie die Abschaffung der Todesstrafe und das Verbot der Folter beschlossen hatte. Doch schon ein Jahr später suspendierte der Europäische Rat die Gespräche. Die Gründe: der ungelöste Zypernkonflikt, Defizite bei den Menschenrechten, aber auch grundsätzliche Bedenken einiger EU-Mitglieder gegen eine Aufnahme der Türkei. Jetzt will die EU Tempo machen. Die Beziehungen seien «einen grossen Schritt vorangekommen», freut sich der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und spricht vom «Beginn einer neuen Ära».

Dabei zeigte gerade die islamisch-konservative Regierung in den vergangenen Jahren der EU die kalte Schulter. Noch im vergangenen Jahr verkündete Erdogan-Chefberater Yigit Bulut, die Türkei brauche Europa nicht, die Verbindungen zur EU könnten für die Türkei sogar «zu einer Last werden». Die Türkei solle deshalb «die Beziehung zu Europa so schnell wie möglich beenden». Auch in Davutoglus Plänen schien für die EU kein Platz zu sein. Er wollte die Türkei zur Führungsmacht im Nahen Osten aufbauen.

Die Türkei gerät immer tiefer in den Strudel des Syrienkrieges.

Aber diese neo-osmanischen Visionen sind zusammengebrochen. Davutoglu steht vor einem aussenpolitischen Scherbenhaufen. Die Türkei gerät immer tiefer in den Strudel des Syrienkrieges, die Beziehungen zum Iran und Irak sind gespannt, in Nordafrika hat die Türkei ihren politischen Einfluss und wichtige Absatzmärkte weitgehend verloren. Nun kommt noch das Zerwürfnis mit Moskau nach dem Abschuss des russischen Bombers hinzu – kein Wunder, dass man sich in Ankara wieder auf die EU besinnt.

Mit politischer Zuneigung hat das aber wenig zu tun. «Natürlich ist das neue Interesse an Europa nicht aufrichtig, sondern taktisch begründet», kommentiert Barcin Yinanc, Kolumnistin der Zeitung «Hürriyet». Die türkische Wirtschaft schwächelt, und man weiss in Ankara: Die EU-Perspektive ist aus Sicht ausländischer Investoren ein wichtiger Stabilitätsanker.

Auch seitens der EU ist politischer Opportunismus im Spiel. Keinem in Brüssel ist entgangen, dass sich die Türkei schon seit einigen Jahren nicht den politischen und gesellschaftlichen Werten der EU annähert, sondern sich davon entfernt. Der jüngste Fortschrittsbericht der EU-Kommission konstatierte fast nur Rückschritte: Gängelung der Justiz, Demontage der Gewaltenteilung, Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit. Das spricht nicht für einen baldigen Beitritt.

Doch durch die Flüchtlingskrise hat die Türkei einen völlig neuen Stellenwert bekommen. «Sie wird zu einem Partner wie Saudi-Arabien oder Ägypten», sagt ein westlicher Diplomat in Ankara: «Über Menschenrechtsverletzungen sieht man hinweg, weil man das Land braucht.»

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