Christoph Blocher tut den parlamentarischen Betrieb als Zeitvertreib ab. Das ist bedenklich, aber nicht neu: Der Antiparlamentarismus der Rechtsnationalen hat Tradition.
Es kommt immer wieder mal vor, dass Parlamentarier mitten in der Legislatur zurücktreten, weil sie ihre Prioritäten neu regeln wollen oder müssen. 2012 hat das zum Beispiel der thurgauische SVP-Nationalrat Peter Spuhler getan, weil er sich ganz auf sein florierendes Bahn-Unternehmen konzentrieren wollte. Spuhler tat dies aber, ohne sich über das Gremium, dem er seit 1999 angehört hatte, nachträglich noch abfällig zu äussern.
Christoph Blocher dagegen meint, das Parlament – nach immerhin rund 26 Jahren Zugehörigkeit, wenn auch mit häufigen Absenzen! – jetzt nicht mehr zu brauchen und darum pauschal schlechtreden zu dürfen. Das muss man ernst nehmen, aber man sollte es auch nicht zu ernst nehmen.
Viele Widersprüche
Nicht allzu ernst darum, weil schon viel Widersprüchliches von dieser Seite zu hören war. Widersprüchlich ist etwa, dass Blocher weiterhin an SVP-Fraktionssitzungen dieses unnützen Parlaments teilnehmen möchte. Widersprüche gab es auch im Umgang mit der Masseneinwanderungsinitiative. Vor der Abstimmung hiess es, das werde mit dem Binnenmarkt schon vereinbar sein, nach dem Sieg kam dann das Bekenntnis zum wirklichen Ziel: den Ausstieg aus dem Binnenmarkt.
Gesagt wird, was im Moment nützt, auch wenn vorher und nachher wieder etwas anderes gesagt wird. Die Volksentscheide zu den Bilateralen und zu Schengen sind jetzt ja auch nicht mehr von Bedeutung, obwohl sie mit «sakrosankten» Volksmehrheiten zustande gekommen waren. Aber etwas muss man der jüngsten Ausfälligkeit des Volkstribuns zugute halten: Man kann jetzt – oder könnte wieder einmal – dank des offenen Wortes erkennen, wes Geistes Kind dieser Mann ist.
Zeitverschwendung?
Das Parlament ist der Ort, wo über Dialog die in pluralen Gesellschaften nötige politische Auseinandersetzung stattfindet. Die Verständigungs- und Lernfunktion mag im Plenum weniger ideal zum Zug kommen, weil ein grosser Teil der Meinungen bereits gemacht ist.
Wichtige Dialogarbeit wird aber in den Kommissionen und Wandelhallen geleistet. Da ist zu Recht von Knochenarbeit die Rede. Diese ist jedoch dem Politstar zu viel, weil er sich bereits im Besitze abgeschlossener Wahrheiten wähnt und dank der übertriebenen Medienaufmerksamkeit keine Mühe hat, über viele Kanäle seine stereotypen Botschaften zu verbreiten.
Christoph Blochers Rücktrittserklärung auf Teleblocher:
Es gibt auch Gründe, die Verlautbarungen von Teleblocher ernst zu nehmen. Dass Blocher den parlamentarischen Betrieb als Zeitverschwendung abtut, hat nicht nur mit seinem bekanntermassen fehlenden Anstand zu tun. Und es ist nicht bloss eine späte Abrechnung mit einer Institution, die ihn 2007 als Bundesrat abgewählt hat.
Die Abqualifizierung des Parlaments entspringt einer tieferen Einstellung des politischen Segments, das Blocher vertritt, und das ihn – fast unbegreiflicherweise – immer wieder unterstützt. Es ist eine Einstellung, die in der Schweiz und im Ausland ihre Geschichte hat.
Helvetischer Antiparlamentarismus
Schon in den 1930er-Jahren wurde das Parlament von der politischen Rechten und einer rechtslastigen Mitte heftig infrage gestellt. Es erstaunt nicht, dass die Frontisten (als helvetische Variante des Faschismus) gegen die «Schwatzbude» polemisierten, wie sie auch, sich selbst als dynamische «Bewegung» verstehend, gegen das als zu statisch kritisierte «System» der klassischen Parteien schimpften.
Erstaunlicher war, dass der Landesring der Unabhängigen (LdU), den es in den Jahren 1935 bis 1999 als organisierte Kraft gab, 1940/41 mit der sogenannten Pfänder-Initiative eine Sanierung des angeblich schwer kranken Parlamentsbetriebs forderte. Mit einer erheblichen Reduktion der Mitgliederzahl, mit Amtszeitbeschränkung und mit sofortigen Neuwahlen sollte der Zeitverschwendung, der Leerschwätzerei und Disziplinlosigkeit ein Ende bereitet werden. Otto Pfänder war Schulmeister.
Diese Attacke wurde von den meisten als «gefährliche Aushöhlung des demokratischen Fundaments» und deren Abwehr als «ein Stück demokratischer Staatsschutz» eingestuft. Im Mai 1942 wurde die Initiative mit über 65 Prozent Nein-Stimmen und mit nur einer halben Kantonszustimmung (Appenzell Ausserrhoden) deutlich abgelehnt.
Alte Sehnsucht nach dem starken Mann
In den 1930er/40er-Jahren gab es eine Phase, in der gemäss der zeittypischen Sehnsucht nach einem starken Mann die Idee herumgeisterte, dass das Land einen gesamtschweizerischen Landammann nötig habe, eine Art eidgenössischen Führer oder Duce. Ein solches Amt hatte es, allerdings unter anderen Umständen und mit anderer Bedeutung, schon in der Zeit der Mediation von 1803 bis 1814 gegeben.
Der Mann aus Herrliberg würde gewiss gerne ein gesamteidgenössischer Landesvater sein, sofern das Volk nach seinen Vorgaben spuren würde. Aber mindestens so gerne ist er auch ein politischer Feldherr bloss eines Teils der Schweiz, sofern dieser ihm wie am 9. Februar eine 50,3-Prozent-Mehrheit bringt.
Blocher hat schon einmal einen angeblichen Vertrag mit dem Volk abgeschlossen
Der Kampf gegen eine starke, seinen Feldzug beflügelnde Gegnerschaft gehört zu seinem Szenario und seiner Motivation. Nicht zufällig wird von Kampftruppe und Kriegskasse gesprochen. Das hohe Ziel der Unabhängigkeit des Vaterlandes scheint diese Militanz zu rechtfertigen. Bis zu einem gewissen Grad ist aber auch eine umgekehrte Kombination am Werk: Weil man so gerne militant ist, pflegt man eine die Kampfkultur rechtfertigende Zielsetzung.
Ganz nach Blochers Gusto ist dagegen das Ritual einer direkten Partnerschaft zwischen Führer und Basis. Schon einmal ist auf seine Veranlassung hin – die meisten dürften es längst wieder vergessen haben – über teure Inserate ein angeblicher Vertrag mit dem Volk «abgeschlossen» worden. Dies jenseits des bereits bestehenden Grundvertrags, nämlich der geltenden Bundesverfassung. Und dies ebenfalls unter typischer Umgehung oder Ausschaltung des Parlaments.
Akklamation des Führers
Das kennt man insbesondere vom Regierungsverständnis des französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle. Nach ihm hielten es die Nachfolger Pompidou, Mitterrand und Chirac ähnlich: Inszenierung eines Plebiszits, wenn man der Akklamation sicher war.
Diesen fast harmlos erscheinenden Praktiken war im 19. Jahrhundert bereits Napoleon III. vorausgegangen. Im Dezember 1852 riss er mit einem Staatsstreich ausserordentliche Vollmachten an sich, aber er liess die diktatorischen Kompetenzen wie auch den Kaisertitel in Volksbefragungen absegnen. Die gut inszenierten Plebiszite ergaben überwältigende Mehrheiten von 92 und 97 Prozent. Verlierer waren die Kammern der Volks- und Ständevertretung, also die mittleren Kräfte («pouvoirs intermédiaires») zwischen unten und oben.
Was Napoleon III. betrieb, war Populismus pur. Dieser wird in der Literatur – etwa vom Basler Historiker Jacob Burckhardt – auch als Cäsarismus bezeichnet. Der konservative Basler hätte Blocher nicht gemocht. Er warnte in den 1860er-Jahren beinahe prophetisch vor künftigen Massenbewegungen und ihren modernen Cäsaren und mahnte, dass jede Generation «Probe halten» müsse.
Während in früheren Zeiten (man kennt das vielleicht aus Historienfilmen) die Soldaten mit ihren Schwertern auf ihre Schilde trommelten, wenn sie ihren Feldherrn per Akklamation auf «den Schild» hoben, begnügt sich die Spätform mit der Abgabe der Stimm- und Wahlzettel.
Autoritäres Gesellschaftsverständnis
Dabei werden Person und Sache derart miteinander verquickt, dass beides sich gegenseitig potenziert: Die Anhängerschaft ist im vorliegenden Fall gegen die europäische Integration, weil sie für Blocher ist, der sich gegen die europäische Integration stemmt. Schon im letzten, allerdings «abverheiten» Wahlkampf hiess es «Blocher stärken» und – die mit der Schweiz gleichgesetzte – «SVP wählen!». Oder umgekehrt.
Sonderbar ist bloss, dass eine solche Tendenz in einem Ländchen möglich ist, das sich als die älteste Demokratie der Welt verstehen will. Der sogenannte Kampf um die Unabhängigkeit des Landes geht Hand in Hand mit dem Kampf für ein autoritäres Gesellschaftsverständnis. Und vieles, was von der scheinbar so föderalistischen SVP kommt, fördert zudem eine zentralistische Tendenz.
Gefährliche Verachtung
Gemäss Wikipedia gelten als cäsaristische – und entsprechend umstrittene – Figuren neben dem namensgebenden Caesar auch Alexander der Grosse, Cromwell, Napoleon I., der Zulukönig Shaka, Napoleon III., Lenin (offenbar nicht Stalin, weil noch ein Grad despotischer), aber Atatürk, Mussolini, Hitler, Mao Zedong und Gaddafi.
In dieser Aufzählung sind, wie man sieht, erwartungsgemäss und richtigerweise auch die charismatischen Führer der Faschisten und Nationalsozialisten dabei. Was soll deren Erwähnung in unserem Zusammenhang?
Es geht hier nicht um eine billige, bloss Diffamierung betreibende Gleichsetzung. Es geht um einen ernsthaften Hinweis, dass man an diesen Figuren erkennen kann, wie gefährlich einerseits die Verachtung des Parlamentarismus und andererseits die stille und gefügige Hinnahme dieser Geringschätzung ist – oder wäre. Die Anspielung im Chefkommentar der «Basellandschaftlichen Zeitung» von Matthias Zehnder mit dem Titel «Sein Kampf» war angebracht.