Der Kern des Unbehagens der Bevölkerung liege in der ungebremsten Zuwanderung, sagt der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann. Dennoch sei die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Schweiz auch eine Geschichte der Zuwanderung.
Herr Straumann, Sie haben kürzlich geschrieben, dass eine ungebremste Einwanderung innenpolitisch über längere Zeit nicht durchzuhalten ist. Vermuten Sie ein Ja am 9. Februar zur Masseneinwanderungsinitiative der SVP?
Ich habe eher das Gefühl, es gibt ein knappes Nein. Die Analyse bleibt aber die gleiche: Auf die Dauer ist eine ungebremste Zuwanderung innenpolitisch nicht durchzuhalten. Immer wenn die Einwanderung stark war in der Schweiz, formierte sich Opposition dagegen. Das war vor dem Ersten Weltkrieg so und das war in der Hochkonjunktur in den 1970er-Jahren so.
Vor dem Ersten Weltkrieg gab es gar keine Beschränkung der Zuwanderung.
Ja, aber es gab auch keinen Sozialstaat. Wer in die Schweiz kam und nicht sofort Arbeit fand, der drohte zu verhungern. Von Mussolini weiss man zum Beispiel, dass er als junger Sozialist in der Schweiz grösste Mühe hatte zu überleben. Im Ersten Weltkrieg wurden dann Beschränkungen für die Zuwanderung eingeführt. In den 1970er-Jahren war es eine Rezession mit der damit verbundenen negativen Zuwanderung, die das Thema wieder verschwinden liess.
Gegner der Masseneinwanderungsinitiative argumentieren mit der Bedeutung der Zuwanderer für unser Wirtschaftswachstum. Gibt es Beweise für die monokausale Argumentation: Mehr Zuwanderer gleich mehr Wachstum?
So kann man es nicht sagen. Kurzfristig hat uns die Zuwanderung sehr gut getan, weil durch die Finanzkrise die Exporte litten. Durch die Zuwanderung blieb die Gesamtkonjunktur stabil. Mittel- bis langfristig ist es so: Eine wachsende Bevölkerung ist immer ein Teil des gesamten Wirtschaftswachstum, aber dieses darf nicht alleine auf der Zuwanderung beruhen. Es braucht Produktionsverbesserungen, neue Märkte etc. Wenn die Wirtschaft nur über die Zunahme der Arbeitsstunden wächst, dann ist das ungesund. Die Gegner der Masseneinwanderungsinitiative übertreiben: Niemand will die Zuwanderung auf null bringen. Und es ist falsch, dass das wirtschaftliche Schicksal der Schweiz so einseitig mit der Personenfreizügigkeit verknüpft ist.
Lässt sich die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert dennoch auch als Geschichte der Zuwanderung lesen?
Ja klar, und sogar noch weiter zurück. Schon im 16. Jahrhundert kamen hochqualifizierte Arbeitskräfte zu uns, protestantische Flüchtlinge aus Frankreich oder Italien, auch jüdische Einwanderer. In Ihrer Region wäre die Seidenband-Industrie ohne diese Einwanderer undenkbar gewesen. Bedauerlich an der aktuellen politischen Diskussion ist die totale Fokussierung darauf, ob die Zuwanderung nun gut oder schlecht sei. Aus meiner Sicht besteht der Kern des Unbehagens darin, dass die Zuwanderung heute nicht mehr steuerbar ist.
War denn die Steuerbarkeit mit den Kontingenten früher besser?
Ja, auch wenn es viele Konflikte mit Kontingenten gab. Aber die Kontingente wirken eben auch innenpolitisch: Man kann im Notfall eine Bremse ziehen. Dass die Arbeitgeber so vehement für die Personenfreizügigkeit sind, das ist logisch: Sie können aus einem Markt von 500 Millionen Arbeitnehmern rekrutieren. Das ist viel einfacher als wieder mit Kontingenten zu arbeiten.
Wie viel Zuwanderung erträgt es ökonomisch gesehen?
Rein ökonomisch betrachtet, können wir gut Jahrzehnte lang in diesem Stil weiterwachsen.