Der Bundespräsident präsentiert sich gerne als Vertreter des kleinen Mannes. Wenn es aber ernst wird, dann kneift er.
Es war das französischste Wort des Bundespräsidenten während 28 quälend langen, gänzlich unfranzösischen Minuten im Westschweizer Fernsehen. «Boff», sagte Ueli Maurer auf die Frage des Journalisten Darius Rochebin und blies Luft in den Raum, dass sich die Backen blähten. Das lautmalerische «Boff», mit dem Ueli Maurer seine zwei dürren Sätze zum Überwachungsskandal einleitete, zeigte deutlich, was er, Maurer, von der Empörung über die totale Überwachung hält.
Nichts. Gar nichts.
Wem das «Boff» im Westschweizer Fernsehen nicht genügte, der erhielt spätestens bei der Bundesrats-Medienkonferenz vor einer Woche einen weiteren Beweis für den Grad an Gleichgültigkeit, mit dem Maurer auf die Enthüllungen des ehemaligen NSA-Mitarbeiters Edward Snowden reagiert. Diese «Veröffentlichungen», sagte der Bundespräsident und malte dazu zwei imaginäre Anführungszeichen in die Luft, diese «Veröffentlichungen» würden ihn gar nicht überraschen. «In der Schweiz wurde schon immer spioniert. Und in der Schweiz wird immer spioniert werden. Wir müssen die Aufregung etwas relativieren.» Wo käme man denn hin, wenn sich der Bundesrat seine Traktandenliste von den Medien oder von empörten Parlamentariern diktieren liesse? «Es gibt keinen Grund, so hysterisch wie die anderen zu reagieren.»
Vom Zweifel unberührt
Im Gegensatz zu anderen europäischen Nationen habe man auch keinen Kontakt mit dem amerikanischen Geheimdienst NSA. «Es werden und wurden keine Daten mit der NSA ausgetauscht.» Kaum hatte Bundespräsident Maurer seine Pressekonferenz beendet (er stellte einen neuen Direktor für das Bundesamt für Bevölkerungsschutz vor), da stellte ein von der spanischen Zeitung «El Mundo» veröffentlichtes Dokument aus dem Snowden-Bestand die Aussagen von Maurer in ein schiefes Licht. Die Schweiz wird auf dem Dokument der NSA mit dem Titel «Sharing computer network operations cryptologic information with foreign partners» in einer Liste mit jenen Ländern erwähnt, die mit dem NSA eine «focused cooperation», eine «vertiefte Zusammenarbeit» haben sollen. Selbst das brachte Maurer aber nicht aus der Ruhe. Gegenüber dem Bundeshausradio sagte er noch am selben Tag (auf Schweizerdeutsch dieses Mal): «Das Dokument sagt gar nichts aus, oder.» Den Satz leitete er mit dem schweizerdeutschen Pendant zum französischen «Boff» ein, einem engagierten «Pffff».
Einen Tag später musste das Verteidigungsdepartement VBS einräumen, dass man halt doch nicht ganz ausschliessen könne, dass Daten des Schweizer Nachrichtendienstes (NDB) auch an die NSA gelangt sein könnten. Zwar nicht direkt, aber über einen jener Geheimdienste in den USA, mit denen der NDB auch tatsächlich zusammenarbeitet (was von Maurer und dem VBS nie in Abrede gestellt wurde).
An der Nonchalance von Maurer ändert das nichts. Für ihn ist der Überwachungsskandal nicht der Rede wert. Warum das so ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Im Parlament und auch in der Geschäftsprüfungsdelegation des Bundes, der GPDel, die für die Kontrolle der Geheimdienste zuständig ist.
Es gibt Mitglieder der GPDel, die Maurer als «unguided missile» bezeichnen, total konzept- und orientierungslos. Als einen Bundesrat, der keine Ahnung hat, was seine Geheimdienste tatsächlich machen. Der keine Ahnung hat, was für Dimensionen dieser Skandal besitzt. Und dem sein sonst so untrügliches Sensorium für das Gefühl des kleinen Mannes auf der Strasse abhanden gekommen ist. «Maurer hat die falschen Leute um sich und schnallt im Moment gar nichts mehr», sagt beispielsweise der grüne Nationalrat Daniel Vischer, der Maurer seit seiner Zeit aus dem Zürcher Kantonsrat in den 1980er-Jahren kennt und selber nicht Mitglied der GPDel ist. «Er hat auch noch nicht gemerkt, dass die Meinung innerhalb der SVP schon lange auf einen antiamerikanischen Kurs eingeschwenkt ist.»
Der Ahnungslose
Im Bundeshaus gibt es noch eine zweite, entgegengesetzte Lesart von Maurers Verhalten im NSA-Skandal. In dieser Erzählung ist Maurer nicht ahnungslos, sondern äusserst raffiniert. Der Bundespräsident, der während seiner politischen Karriere schon immer unterschätzt und karikiert wurde, wisse nur zu genau, was er tue. Er sage nur exakt das, was sich nicht vermeiden lässt, und spiele sonst den Ahnungslosen. Sollte irgendwann herauskommen, dass auch der Schweizer Geheimdienst aktiv im Spiel der Amerikaner mitgemacht hat, kann Maurer alles auf die Führung seines Geheimdienstes abschieben, die ihn nicht angemessen informiert hat. Ob das stimmt oder nicht, spielt dann keine Rolle mehr. Seit dem peinlichen Datenklau aus der Zentrale des NDB fehlen dem Nachrichtendienst-Chef Markus Seiler gute Argumente: Bei einem nächsten Fehler wird er fliegen.
Der Widerspruch in Maurers Verhalten erschöpft sich nicht in der Rätselei, ob er nun besonders raffiniert oder besonders ahnungslos sei. Der Widerspruch lässt sich auch handfester zeigen. In einer Rede vor den Delegierten der SVP in Meiringen, nur eine Woche vor seinem genervten Auftritt vor den Bundeshausmedien, sprach Maurer über die Selbstbestimmung von Bürger, Familie und Staat.
Der Bürger und der Staat
In seinem schriftlichen Redetext heisst es: «Uns Schweizern geht es gut, weil bei uns das Gleichgewicht noch einigermassen stimmt, weil das Verhältnis zwischen Bürger und Staat noch nicht dermassen aus dem Lot geraten ist wie anderswo.» Als Beweis machte er die Selbstbestimmung des Bürgers aus, die auf drei Pfeilern stehe: Eigentum, Familie und – Privatsphäre. Über die Privatsphäre sagte Maurer laut Redetext: «In demokratischen Staaten ist der Staat gläsern, in totalitären Staaten ist der Bürger gläsern. Der Staat kann ihn dauernd beobachten und überwachen.» In einem nächsten Abschnitt wurde klar, worauf er hinauswollte: Es ging ihm vorab um die finanzielle Privatsphäre, ums Bankgeheimnis, das SVP-Kreise und die FDP per Initiative in die Verfassung schreiben wollen.
Trotz dieses letzten Schlenkers war die Rede von Maurer stark. Sie war klar, präzis, auf den Punkt gebracht. Maurer hielt schon einige Reden dieser Sorte in seinem Jahr als Bundespräsident und wurde dafür gelobt. Beispielsweise nach seinem Auftritt vor der UNO in New York im September. Weltmännisch sei das gewesen, meinte das Schweizer Radio, einen «überraschend souveränen Auftritt» hatte die NZZ gesehen. Vor der versammelten Weltöffentlichkeit geisselte Maurer die Machtpolitik der grossen Staaten, die die in der UNO-Charta festgeschriebene Gleichberechtigung aller Staaten gefährde, und hielt ein flammendes Plädoyer für das Völkerrecht: «Gemeinsame Normen und Regeln, das Völkerrecht, sind die Grundlage dafür, dass nicht einfach das Recht des Stärkeren gilt. So bringen uns Souveränität und Gleichberechtigung Frieden, Stabilität und freundschaftliche Beziehungen zwischen allen Völkern.»
Maurers Rede vor der UNO war eine Variation eines wiederkehrenden Themas seiner Präsidentschaft: die Achtung vor dem Kleinen, die Achtung vor der Souveränität, die Achtung vor dem Bürger und seiner Privatsphäre. Damit verdiente sich der Bundespräsident das viele Lob. Mit der Wirklichkeit hat das allerdings nichts mehr zu tun. Das sieht man spätestens dann, wenn die grossen Staaten mit ihren Geheimdiensten jegliche Achtung des Kleinen, der Souveränität und der Privatsphäre vermissen lassen. In diesem Moment der höchsten Bedrohung der kleinen Schweiz weiss der Bundespräsident plötzlich nichts mehr zu sagen. Ausser «Boff».
Quellen
Interview mit Ueli Maurer auf RTS.
Der «Blick» über die Kontakte zwischen NSA und NDB.
Bericht der GPDel zum Datenklau aus der NDB-Zentrale.
Rede von Ueli Maurer vor der Delegiertenversammlung der SVP in Meiringen.
Rede von Ueli Maurer vor der UNO-Generalversammlung.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 08.11.13