Mailand bietet Touristen viel, sehr viel. Aber abseits der Trampelpfade der Reiseführer hat die Domstadt noch mehr zu bieten. Wer sich traut, wird unter Umständen von Hinterhöfen aufgesogen.
Schrittchenweise nähern wir uns der Zuckerbäcker-Fassade des Mailänder Doms. Noch zehn Minuten. Noch fünf. Noch drei. Militärs kontrollieren mit dem Metalldetektor. Militärs kontrollieren den Rucksack. Endlich sind wir durch.
Hinter dem Portal treten wir in einen Wald von Säulen. Mächtig wie Mammutbäume. Auf ihnen schwebt ein Gewölbe wie ein Himmelszelt. Ein Gotteshaus, gebaut für Riesen. Wir fühlen uns wie Ameisen. Auch weil ein Schwarm Touristen zwischen den Baum-Säulen wuselt. An den Wänden reihenweise Heilige. Beim Bartholomäus ein leichtes Schaudern: Er trägt seine eigene Haut als Tunika.
Überall Menschen, ausser in den Kirchenbänken. Von hier aus fällt uns ein oranges Licht hoch über dem Chor auf. Was das wohl ist? Reiseführer gezückt und dazugelernt. Aha! Die wichtigste Mailänder Reliquie. Ein Original-Nagel aus dem Kreuz Christi.
Jetzt auf die Dachterrasse. Ein richtiges «Assassins Creed»-Erlebnis: Nur in Computerspielen lässt es sich so unter den Strebebögen herumspazieren. Überall Selfies. Wir auch. Auf dem Dach denke ich an das überdimensionierte Gewölbe unter uns. Mir wird mulmig. Eine Kuriosität lenkt ab: An einer der unzähligen Spitzen hauen sich Boxer Fäuste um die Ohren. Eine Hommage des diensthabenden Steinmetzen an einen beliebten Boxer.
Wieder unten gehts in die Galleria Vittorio Emanuele II. Muss hier alles so riesig sein? Wieder bestaunen wir ein scheinbar endlos hohes Gewölbe über der Einkaufsstrasse. Hier sind wir fehl am Platz. Das Budget ist auch ohne einen neuen Armani-Anzug oder Gucci-Tasche knapp bemessen. In der Mitte drehen Leute komische Pirouetten. Ach so, der Stier aus Turin. Ein Dreher auf seinen Mosaik-Hoden bringe Glück, sagen die Milanesi. Hauptsache, massenhaft Touristen treten auf der Konkurrenzstadt herum.
Für heute ists gut mit der Hochkultur. Was Herzhaftes muss her. Wir sind auf Nahrungssuche am Naviglio Grande. Zwischen den Strassenverkäufern mit ihrer Billigware ködern Kellner mit «Buonasera, come in please!» Wir wählen absichtlich das eine Lokal, bei dem die Kellner bloss freundlich lächeln.
Was war Ossobuco noch mal? Reiseführer: typisch milanesische Kalbshaxe, dem Namen nach mit Loch im Knochen. Meine Begleitung muss sich überwinden. Es schmeckt. Das deftige Gericht passt irgendwie zur Stimmung am Kanal. Über die kleinen Brücken hinweg bestrahlt die Abendsonne die quietschgelbe Fassade gegenüber. Da und dort Gelächter. Überall klingen Rotweingläser. Dolce Vita pur!
Nächster Tag. Eine neue Adresse für Kultur: 10 Corso Como, empfehlen Einheimische, und schicken uns in ein Minenfeld. Vorsichtig zirkeln wir um die bisweilen dicht arrangierten Kleiderständer, Vasen und den Plastiken. Eine falsche Bewegung und das Jahres-Budget ist hinüber. Schade eigentlich. Einige der vielen Designer treffen unseren Geschmack. Nach einem Rundgang durch die Kunstausstellung lockt der grüne Innenhof zum Espresso Trinken.
Mit gesundem Koffein-Pegel schlendern wir weiter. In Richtung «Monumentale» – besser hätten die Mailänder ihren Friedhof nicht taufen können. Nicht nur die Eingänge sind «Monumentale» sondern auch die Gräber. Regelrechte Paläste. Über grossen Eisentüren türmen sich mehrstöckige Mausoleen. Mannshohe Engel, griechische Säulen und ganze Pyramiden säumen die breiten Kieswege. Ein eindrücklich schauriges Bild. Kaum abzuschätzen, mit welchen Kosten sich die Mailänder scheinbar ans diesseitige Ansehen klammern.
Wir suchen das Mailand der Mailänder. Ansässige schicken uns abseits der Touristenpfade in den nordöstlichen Teil. Kleine Läden, Gelaterias und Bars säumen die stark befahrene Hauptstrasse. Brüchige Fassaden mit abgasgrauen Fenstern. Eigentlich nichts für Wochenendgäste, hier steht der Alltag in den Gesichtern. Auch am Samstagabend.
Wir biegen rechts ab und laufen dem Naviglio Martesana entlang. Die Lage entspannt sich: Schwatzend, rauchend, Wein trinkend steht da und dort ein Grüppchen vor dem Restaurant am Ufer. Andere spazieren wie wir dem Park entgegen. Ein laues Lüftchen trägt immer wieder verdächtig riechende Rauchschwaden vorbei.
Musik. Sie kommt von der kleinen Häusergruppe vor uns. Wir sind neugierig. Rein in den Innenhof. Festbetrieb saugt uns auf. Zwischen den alten Fassaden wummern fette Hip-Hop-Beats aus Boxen. Ein Grill, Hängematten, Tanzende. Und vor uns eine Kassiererin, die fünf Euro Eintritt will.
Wir sind auf den Kulturbetrieb Cascina Martesana gestossen. Es ist schon spät. Darum spazieren wir nur kurz durch die kleine aber feine Foto-Ausstellung. Bild-Doku eines bärtigen, langhaarigen Mannes auf Wanderschaft. Müde und zufrieden machen wir uns auf den Rückweg. Mittlerweile macht auch die Hauptstrasse Feierabend. Vor der Heimreise gönnen wir uns ein letztes Mal Dolce Vita: Stracciatella und Schokolade.
- Anstehen: Am Samstagmorgen ist die Schlange zum Dom am kürzesten. Das Ticket ab Entwertung ist für drei Tage gültig.
- Ansehen: Um das letzte «Abendmahl» von Leonardo zu bewundern, ist noch mehr Planung nötig: Die Tickets sind jeweils auf drei Monate ausgebucht.
- Ausgehen: Das 5-Euro-Ticket für die Cascina Martesana lohnt sich. Damit ist man für die Saison auch gleich Vereinsmitglied.