Nacht für Nacht landen an der Küste der griechischen Insel Chios Flüchtlinge, manchmal 100, manchmal 1000. NGOs aus der halben Welt kümmern sich um die Erstversorgung, darunter die Volontäre von «Be Aware and Share» aus Basel. Ein Augenschein vor Ort.
«Los!», ruft Jacob noch, dann ist auch er in der Menschenmasse verschwunden – trotz seines blonden Schopfs und der Körpergrösse von fast zwei Metern. Ihm hinterher rennen Anna, die Krankenschwester, Severin, der Spengler, Baschi, der Sozialarbeiter – und Lucas, der Journalist. Menschen in roten Schwimmwesten stürmen auf uns zu, umarmen und danken uns, lachen, vergiessen Tränen der Freude und Erleichterung, zum Himmel gestreckte Arme, eine Stimme überschlägt sich: «Allahu akbar!», ein Kind weint und ein zweites stimmt ein.
Vokaria auf der Insel Chios, Griechenland, eine halbe Flugstunde südöstlich von Athen. Es ist kurz vor Mitternacht, als noch immer Menschen aus dem blass-beigen Schlauchboot strömen, das mit Klebeband und Spanholzplatten befestigt ist. Und mit ihnen der Schwall eines Dufts aus Angst, Schweiss, aus Hoffnung und Verzweiflung. Hier, am steinigen Strand von Chios, beginnt der europäische Teil dessen, was die Politik in Berlin und Brüssel, in Athen, London und Paris als Flüchtlingskrise bezeichnet.
«Surreal, gell», sagt Baschi, lächelt gequält und denkt dabei an die 50 Rappen, die er braucht, um eine Mahlzeit bereitzustellen. Aber hier lasse man die Lebensmittel verrotten, weil sie nicht der Norm entsprächen, während gleichenorts Menschen alles zurückliessen und ihr Leben riskierten, um zehn Kilometer Meerwasser in einem heillos überladenen, untermotorisierten Boot hinter sich zu bringen, das selbst auf einem ruhigen Binnengewässer als untauglich gälte. Die Fährverbindung von der türkischen Hafenstadt Çeşme nach Chios würde knapp 30 Euro kosten.
Baschi zeigt auf die Menschen an der Küste Vokarias und sagt: «Aber das hier war ein gutes Boot.» Er meint damit: keine Verletzten an Bord, keine Unterkühlten und vor allem – keine Ertrunkenen. Als das BAAS-Team zwei Tage zuvor ein Flüchtlingsboot aus den Fluten der Meerenge in Chios zog, trieb der leblose Körper eines zweijährigen Buben im Wasser, das kniehoch im Boot stand. Es kam jede Hilfe zu spät.
Haufen mit Schwimmwesten, wie man sie überall entlang der Küste findet, hier in Agia Ermioni. (Bild: Lucas Huber)
Dann wendet er sich wieder den Gestrandeten zu, verteilt Rettungsdecken, fragt nach dem Befinden und ob weitere Boote unterwegs seien. Anna steht am Pick-up und zapft im Akkord warmen Tee aus dem 60-Liter-Thermostopf, der auf der Ladefläche steht, die anderen hetzen herum, verteilen die Becher und den Kindern Süssigkeiten, beantworten Fragen. Wohin gehen wir? Was geschieht nun? Ein Team der norwegischen NGO «A Drop into the Ocean» ist eingetroffen, der Kofferraum zum Bersten gefüllt mit Kleidung, Socken, Schuhen. Eine Schlange schlotternder Menschen bildet sich am Heck des Autos.
Vom Hafen Vokarias bis hoch ins Dorf ist es ein Fussmarsch von einer knappen halben Stunde, in engen Kurven windet sich der Weg den kargen Hang hoch. Als nach einer runden Stunde alle versorgt sind, brechen wir auf, Bruder Jacob und Anna – bestückt mit Stirn- und Taschenlampen – vorneweg, Severin und ich als Nachhut, dahinter Baschi im Pick-up und ein Fahrzeug der örtlichen Feuerwehr. Der junge Mann am Steuer heisst Dimos.
Wenn in Vokaria ein Boot anlandet, ist Dimos der erste, der zur Stelle ist. Er ist einer von unzähligen Einheimischen, die Tag für Tag und Nacht für Nacht erste Hilfe leisten, Ankommende versorgen, Lebensmittel verteilen, kurz: helfen, wo es nur geht. Er hat dafür gesorgt, dass zwei Toi-Toi-Toiletten im Dorfzentrum zu stehen kamen und kapert regelmässig den Transporter der Feuerwehr, um die Alten und Gebrechlichen die steile Küste hoch ins Dorf zu fahren.
Essensausgabe im UNHCR-Camp Souda. (Bild: Lucas Huber)
Auch Sølvie hilft. Die Norwegerin lebt seit Jahren auf Chios. Doch seit sieben, acht Monaten, seit die Flüchtlinge landen, manchmal 100, manchmal 1000 in einer Nacht, sagt sie, führe sie kein normales Leben mehr. «Doch was könnte ich Sinnvolleres tun, als Menschen in Not zu helfen?», fragt sie und erwartet keine Antwort. «Aber was ich hier tue, ist nichts im Vergleich zu dem, was die Einheimischen leisten.» Obwohl sie selbst quasi eine Einheimische ist.
Ich treffe sie am Hafen von Agia Ermioni, das Appartement von BAAS ist in Sichtweite. Mit Anwohnern, Fischern und Pensionierten errichtet sie am Rand des Hafengeländes einen Unterstand, weisshaarige Männer mit wettergegerbten Gesichtern auf Klappleitern hämmern, schrauben und schweissen. Eine Baracke, in der sie Kleidung, Schuhe und Windeln lagern, steht bereits, nun bauen sie ein Dach und einen Windschutz, um die Ankommenden vor Wind und Wetter zu schützen.
Sieben Boote landen in dieser Nacht insgesamt in Chios. Um kurz vor drei Uhr morgens ist es dann für uns so weit. Der Klang eines Motors rattert offenbar orientierungslos durch die Meerenge, die Mitteilungen im Chat überschlagen sich. Dann sind scheinbar plötzlich sämtliche Organisationen vor Ort, als das Boot tatsächlich Land berührt. Die Women and Health Alliance International ist hier und verteilt Bananen, die Basque Humanitarian Maritime Rescue fahren mit einem Sanitätswagen vor.
Und mittendrin: Frontex. Die europäische Grenzschutzagentur – wie auch die griechische Grenzpolizei – schaut dem Treiben teilnahmslos zu. Wie eine aufgelöste Frau kreischend und kreidebleich aus dem Boot gehoben wird und ihr Kind nach Luft schnappt; wie die NGOs Tee, Kleidung und Essen verteilen; und wie eine hagere Gestalt mit tief ins Gesicht gezogener Baseballmütze den Motor aus dem Boot hievt, schultert, in ihren Toyota wuchtet und davonbraust. Der Motor wird, lasse ich mir sagen, auf direktem Weg zurück an die türkische Küste gebracht. Für das nächste Flüchtlingsboot.
Der Basler Baschi Seelhofer, 28, gründete vergangenen Herbst die Hilfsorganisation «Be Aware and Share» (BAAS) – sei achtsam und teile. Eigentlich wollte er nur seinen VW Transporter mit einer Ladung Hilfsgütern vollpacken und für ein paar Tage nach Kroatien, Ungarn oder die Slowakei reisen, um zu helfen, wo Not am Mann war in der anschwellenden Flüchtlingswelle. Doch BAAS verbreitete sich wie ein Lauffeuer, vor allem über Facebook, und der Zuspruch war derart gross, dass der Initiant nach mehreren Einsätzen in Kroatien und Serbien seinen Job als Sozialarbeiter kündigte, um Anfang Februar für ein Jahr auf Chios Flüchtlingshilfe zu leisten. Er hat dafür Freiwillige rekrutiert, zehn Leute, so der Plan, sollen stets vor Ort sein, um in zwei Teams tagsüber Essen auszugeben und nachtsüber der Küste entlang zu patrouillieren.
Die Gruppe wohnt in einem Appartement am Hafen des Dorfes Agia Ermioni, von der Dachterrasse aus sieht man die türkische Küste in trügerischer Nähe. Auf einem Schwerlastregal stapeln sich Medikamente und Lebensmittel, Eier, Pasta, ein Bäcker bringt täglich mehrere Kilo Brot. An einer Wand hängen die Telefonnummern der anderen NGOs, eine Karte der Insel, Einsatzpläne. Die Volontäre kommen für eine Woche oder drei Monate. Sie wohnen in engen Zimmern, von Privatsphäre kann kaum die Rede sein, und die Feldbetten sind eine Qual für den Rücken. Doch dieser Tage soll ein Lastwagen mit Medikamenten, Kleidung und vor allem mit Stockbetten eintreffen.
Vom BAAS-Einsatz in Kroatien entstand ein Dokumentarfilm.