Nach dem vierfachen Familienmord in Ostfrankreich deutet vieles auf einen Auftragsmord hin. Die Regierung verteidigt die Ermittler, die ein Kleinkind, das überlebt hatte, am Tatort stundenlang übersehen hatten.
Die achtjährige Tochter kann nicht sprechen. Sie ist im künstlichen Koma. Ihre vierjährige Schwester, mehrfach befragt, brabbelt von Lärm und Schreien, scheint aber nichts gesehen zu haben. Andere Überlebende der Schreckenstat im Wald bei Annecy gibt es nicht. In einem BMW fanden sich drei Leichen: ein irakischer Geschäftsmann, seine Frau und deren Grossmutter, letztere mit einem schwedischen Pass ausgestattet. Sie wurden mit «mindestens einer Kugel» in die Stirn niedergestreckt, erklärte Staatsanwalt Eric Maillaud am Freitag. Die Zeitschrift Paris-Match kommentierte: «Sieht aus wie eine professionelle Erschiessung.»
Neben dem Wagen lag ein toter Radfahrer, ein 45-jährige Franzose aus der Umgebung, der auf dem Waldweg zufällig vorbeigekommen sein könnte. Ihn ereilten fünf Kugeln – was einer weniger überlegten Tat schliessen lässt. Auf der anderen Wagenseite fand die Polizei das siebenjährige Mädchen mit einem Schädelbruch, im Wageninnern – acht Stunden später! – die Vierjährige unter den Beinen der beiden ermordeten Frauen. Sogar dem lokalen Gerichtsarzt, der die Leichen kurz nach der Tat inspiziert hatte, war das Kleinkind entgangen. Erst die Spurensicherung, die aus dem 600 Kilometer entfernten Paris eintraf, stiess Stunden später auf die Vierjährige.
«Fehlerloser Polizeieinsatz»
Der französische Innenminister Manuel Valls verteidigte den Polizeieinsatz gestern als «fehlerlos». Das späte Fund des Kleinkindes sei durch das strikte Einhalten der Prozeduren zustande gekommen, meinte er. Denn in den vergangenen Jahren hatten Anwälte spektaktulärer Mordfälle in Frankreich mehrfach Prozesserfolge erzielt, weil die Gendarmen am Tatort Beweismaterial bewegt hatten, bevor die Spurensicherung eintraf.
Der Staatsanwalt will aus Ermittlungsgründen nichts Genaues über die Täterschaft sagen. Augenzeugen hätten einen grünen oder dunklen Geländewagen und ein Motorfahrrad davonfahren sehen, erzählt er – um gleich einzuschränken, in den französischen Alpen wimmle es von solchen Fahrzeugen. Von Journalisten bedrängt, verhehlte Maillaud aber schlecht, dass er an – einen oder mehrere – Profikiller glaubt.
Streit ums Erbe
Gab es also Auftraggeber der Morde? Über das Motiv wird heftig spekuliert. Eine Spur führt in den Familienbereich. Das 50-jährige Opfer Saad al Hilli soll mit seinem Bruder Zaid in einen Erbschaftsstreit verwickelt gewesen sein. Ihr Vater sei vor einem Jahr gestorben und habe Geld und Immobilien in England, Frankreich und der Schweiz – oder Spanien – hinterlassen, berichteten Londoner Zeitungen. Staatsanwalt Maillaud meinte aber mit Bezug auf britische Polizei, der Bruder habe sich am Freitag bereits zum zweiten Mal bei der englischen Polizei gemeldet, um jede Verwicklung in die Tat, ja sogar die Existenz eines Streites in Abrede zu stellen. Maillaud meinte, Zaid al Hilli werde von der Polizei «als Zeuge verhört» – also nicht als Verdächtiger.
Zuvor hatte Maillaud erklärt, der angebliche Erbdisput sei «eine interessante Spur, aber in gleicher Weise wie ganz andere Spuren». Der Informatikexperte al Hilli arbeitete zuletzt als Berater für SSTL , ein Tochterunternehmen des Rüstungs- und Luftfahrtkonzerns EADS aus dem Bereich Satelliten. Unbestätigten Medienberichten zufolge wurde er im Jahr 2003 aus Anlass des zweiten Golfkriegs vom britischen Geheimdienst überwacht. Angesichts seiner Tätigkeit in einem strategischen Bereich wäre das allerdings nicht weiter erstaunlich. Zugang zu Rüstungsplänen soll al Hilli nicht gehabt haben. «The Independent» will wissen, der Ermordete sei damals nach Problemen mit dem Regime des früheren irakischen Diktators Saddam Hussein aus Bagdad abgereist.
Die britischen Medien übertrumpfen sich allerdings mit Gerüchten und Spekulationen. Ohne Täterschaft und Motiv bleibt auch die Fragen unbeantwortet, warum die beiden Töchter am Leben gelassen wurden.