Ein Anschlag auf unsere Institutionen und auf unsere Verfassung

Die Durchsetzungsinitiative schafft in der Schweiz eine rechtliche Apartheid. Und sie ist nicht nur ein Fallbeil für Delinquenten ohne Schweizer Pass; sie beschneidet auch die Verfassungsrechte von Schweizern.

Eine Frau mit einem Klebeband mit der Aufschrift "Ausgeschafft" laeuft mit einem Kind ueber den Bundesplatz waehrend einer Aktion am Samstag, 6. November 2010 auf dem Bundesplatz in Bern. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)

(Bild: PETER KLAUNZER)

Die Durchsetzungsinitiative schafft in der Schweiz eine rechtliche Apartheid. Und sie ist nicht nur ein Fallbeil für Delinquenten ohne Schweizer Pass; sie beschneidet auch die Verfassungsrechte von Schweizern.

Bei Alarmrufen denkt man heutzutage zuerst an Paris. Einmal wegen der Terrorattacken, zum andern wegen der Weltklimakonferenz. Einige mögen auch an die eben erfolgte Bundesratswahl denken. Hier soll aber wegen eines anderen Vorgangs Alarm geschlagen werden: Nämlich wegen eines mit dem ordentlichen Instrument der Volksinitiative vorbereiteten Anschlags auf unsere Institutionen und auf unsere Verfassung. Dazu werden wir schon bald in verbindlicher Weise Stellung nehmen müssen.

Am 28. Februar 2016 werden wir auf eidgenössischer Ebene über vier Vorlagen abstimmen: über die zweite Gotthardröhre, worunter wir uns etwas Konkretes vorstellen können; über die Besteuerung von Verheirateten, was dem Portemonnaie mancher Schweizer und Schweizerinnen entgegenkommen könnte; über die Spekulation mit Nahrungsmitteln und schliesslich über die Durchsetzungsinitiative. Die Gotthardpassage ist in den Medien wesentlich präsenter und umstrittener als die Durchsetzungsinitiative, dieses Fallbeil für Delinquenten ohne Schweizer Pass.

Die Durchsetzungsinitiative zielt auf Ausländer ab, im engeren Sinn auf diejenigen, die in welchem Mass auch immer straffällig geworden sind und darum uneingeschränkt des Landes verwiesen werden sollen. Im weiteren Sinn sind aber alle hier lebenden Ausländer (etwa ein Viertel der schweizerischen Wohnbevölkerung) davon betroffen.

Es ist eine Vorlage, die von Ausländerfeindlichkeit lebt, weil sie diesem Bevölkerungsteil, der über kein Stimmrecht verfügt und sich nicht wehren kann, rigoros einer spezifischen Rechtslosigkeit aussetzt. Daniel Binswanger nennt dies treffend eine «rechtliche Apartheid».

Eine einmal angenommene Initiative «gehört» nicht mehr den Initianten, sondern der für die Umsetzung zuständigen Institution.

Wird die Ausländerfrage als Zentrum dieser Abstimmungsvorlage angesehen, stehen die Chancen einer Annahme gut. Das zeigen frühere Ausländervorlagen: die verschiedenen Begrenzungsinitiativen, die Anti-Minarett-Initiative und eben die erste Ausschaffungsinitiative, die 2010 mit 52,3 Prozent angenommen worden ist. 

Dem neuerlichen Vorstoss muss nun deutlich entgegengehalten werden, dass die Durchsetzungsinitiative in schwerwiegender Weise auch Verfassungsrechte der Inländer einschränkt. Sie will dem Parlament die ihm zugewiesene Aufgabe der Ausführungsgesetzgebung nehmen und wichtige Bestimmungen unserer Bundesverfassung aushebeln. Dies ging auf Kosten der Rechtssicherheit, die bisher ein wichtiges schweizerisches Gut gewesen ist.

Es kann nicht genug betont werden, dass eine einmal angenommene Initiative nicht mehr den Initianten, sondern der für die Umsetzung zuständigen Institution «gehört». Im konkreten Fall hat das Parlament im Frühjahr 2015 seine Aufgabe gemacht, viele Härten der Initiative wurden übernommen, aber auch gewisse Unvereinbarkeiten mit dem bestehenden Recht ausgeschieden. Besser wäre freilich gewesen, diese wären bereits vor der Zulassung der Initiative eliminiert worden.

Wäre die Ausschaffungsinitiative bereits letztes Jahr in Kraft gewesen, über 10’000 Menschen ohne schweizerische Staatsbürgerschaft wären ausgeschafft worden.

In einer hitzigen «Arena»-Debatte hat ein Befürworter der Ausschaffungsinitiative den paranoiden Fall konstruierte, dass ein nichtschweizerischer Jemand einen Einbruch in eine einsamen Berghütte (welche typisch schweizerische Symbolik!) und darum eine gravierende Tat begangen haben könnte, weil er eine dort zwar nicht vorhandene, aber theoretisch vorfindbare Tausendernote (nochmals Symbolik!) hätte mitnehmen können.

Aber überhaupt nicht hypothetisch: Ein solcher Delinquent müsse aus der Schweiz rausgeworfen werden, selbst wenn er hier geboren wäre, hier seine Familie und keinerlei Beziehung zum Herkunftsland hätte. Wäre die Ausschaffungsinitiative bereits letztes Jahr in Kraft gewesen, über 10’000 Menschen ohne schweizerische Staatsbürgerschaft wären ausgeschafft worden.

Alarmierend sind die kürzlich bekannt gewordenen Zahlen einer gfs-Umfrage. Ihr zufolge würden im jetzigen Zeitpunkt 66 Prozent (also zwei Drittel!) die Durchsetzungsinitiative «bestimmt» oder «eher» gutheissen. Dem wurde entgegengehalten, dass die Aufklärungskampagne noch nicht eingesetzt habe und die Zustimmung zu Volksinitiativen im Laufe der Abstimmungskämpfe immer abnehme. Letzteres gilt allerdings eher für linke als für rechte Vorlagen.

Man kann von Ausländerfeindlichkeit und Relativierung der Rechtsstaatlichkeit nicht sagen, dass sie von wirtschaftlichem Standortvorteil wären.

Das Bedenkliche ist aber gerade, dass die Durchsetzungsinitiative ohne genaueres Wissen und sozusagen aus dem Bauch heraus derart unterstützt wird. Das dürfte auf zwei bis drei Haltungen zurückzuführen sein: Einmal auf die bereits angesprochene Tendenz, gegen Ausländer «schonungsloser» vorzugehen als gegen Inländer; dann auf den demokratischen Reflex, dass angenommene Volksinitiativen ungeschmälert umgesetzt werden sollen, und drittens auf die latente Abneigung gegen die zu lasche Justiz, die angeblich stets viel zu wenig durchgreife.

Die neue Initiative, die bloss eine alte Vorlage durchsetzen zu wollen vorgibt, hat den Katalog der massgebenden Ausschaffungsgründe sogar weiter verschärft.

Die Ausgangslage mit der hohen Zustimmung ist auch darum alarmierend, weil nicht abzusehen ist, dass bald kräftig Gegensteuer gegeben würde. Wichtiger waren verständlicherweise die eidgenössischen Wahlen, dann kommen die Festtage, danach bleiben nur noch wenige Wochen. Bei den Traditionsparteien ist der Widerstandswille gegen die Vorlage nicht sehr gross. Bei den NGOs ist er grösser, da aber fehlt das Geld. Finanzielle Unterstützung wird von «der Wirtschaft» erwartet. Diese aber hält sich zurück, weil es nicht um offensichtlich wirtschaftliche Interessen geht.

Davon hebt sich die Haltung des Basler Interpharma-Generalsekretärs Thomas Cueni in erfreulicher Weise ab. Er wünscht, «dass es in der Wirtschaft mehr Offenheit für die Tragweite dieser Vorlage gibt». Tragweite? Diese besteht in doppelter Hinsicht: Zum einen kann man von Ausländerfeindlichkeit, Rassismus, Nationalismus und Relativierung der Rechtsstaatlichkeit nicht sagen, dass sie wirtschaftliche Standortvorteile wären. Ganz im Gegenteil, ein von solchen Haltungen geprägtes Gesellschaftsklima kann Expats, die man gerne rekrutieren würde, davon abhalten, in der Schweiz einen Job anzunehmen.

Auch der ehemalige Arbeitgeberpräsident Thomas Daum findet inzwischen, das fehlende Engagement der Wirtschaft gegen die Ausschaffungsinitiative sei ein Fehler gewesen.

Thomas Cueni ist aber vor allem über etwas anderes besorgt: Initiativen, die bereits in der Ausgangsformulierung oder nachher mit ergänzender Durchsetzungsforderung dem Parlament den Spielraum für die Umsetzung nehmen. Gemäss an sich geltender Ordnung ist oder wäre es tatsächlich Aufgabe der beiden Kammern, angenommene Initiativen, die Teil der Verfassung geworden sind, in ein gesamtkonformes Gesetz zu giessen, das per Referendum im Übrigen wieder vors Volk gebracht werden könnte.

Es wäre sehr zu wünschen, dass sich «die Wirtschaft» aus den genannten Gründen in politischen Fragen etwas mehr engagieren würde. Das wäre zum Beispiel bereits 2004 in der Volksabstimmung über die erleichterte Einbürgerung der 2. und 3. Generation nötig gewesen. Oder es würde bei der uns noch bevorstehenden Initiative gegen das Strassburger Gericht der EMRK nötig. Der ehemalige Arbeitgeberpräsident Thomas Daum ist inzwischen ebenfalls der Meinung, das fehlende Engagement der Wirtschaft gegen die Ausschaffungsinitiative sei ein Fehler gewesen.

Die Abstimmung zur Durchsetzungsinitiative ist ein doppelter Probelauf für die wahrscheinlich ebenfalls 2016/17 fällig werdende Abstimmung über die Personenfreizügigkeit wie für die wohl erst 2017/18 zur Abstimmung kommende Landesrecht-Initiative, welche die Schwächung der Menschenrechte (EMRK) anstrebt.

Die Forderungen der Durchsetzungsinitiative gehen über das Ausländerstrafrecht hinaus. Ob man das begreift?

Selbst die rechtsbürgerlich gewordene «Neue Zürcher Zeitung» ist alarmiert, sie räumt ein, dass diese SVP-Initiative Wirtschaftsinteressen «tangiere», weil sie eine vorgezogene Zurückstufung von Völkerrecht und Freizügigkeitsabkommen mit der EU bedeute und im Widerspruch zu EMRK, UNO-Pakt II, der Kinderrechtskonvention und Efta-Übereinkommen stehe.

Wollen wir das? Wir können nicht, wie das bereits bei der Masseneinwanderungsinitiative vom 9. Februar 2014 gesagt worden ist, behaupten, das alles nicht gewusst und darum nicht in Rechnung gestellt zu haben. Die Vorlage geht über das Ausländerstrafrecht hinaus. Ob man das begreift?

Es wäre wünschenswert, dass die Verteidiger der bisher geltenden Prinzipien und Vereinbarungen den bevorstehenden Bürger- und Bürgerinnen-Test gewinnen würden. Sollte dies nicht der Fall sein, könnte man nicht nur den bösen Initianten die Schuld geben, dann wären auch die am 28. Februar des kommenden Jahres an die Urnen gerufenen lieben Schweizerinnen und Schweizer mitverantwortlich.

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