Die Erweiterung des Panamakanals ist ein Milliardenprojekt. An den Bedürfnissen der Bevölkerung geht es komplett vorbei.
Panama City empfängt mit Skyline und Tropenhitze. Die Maschine überfliegt den Isthmus, legt sich vor der Bucht von Panama in die Rechtskurve. Sightseeing aus dem Bullauge: Pötte auf Reede, spielzeugklein, vor sich die Einfahrt zum Kanal. Gleich danach die Bürotürme und Apartmentsilos von Punta Paitilla und die Siedlungstentakel der Küste entlang nach Osten. Wenig später das Dschungelgrün der Mangrovenwälder, im Visier von Baderesort-Investoren. Beim Verlassen der Flughafenhalle in Tocumen läuft der Neuankömmling ins lokale Klima wie in eine Wand.
Panama, mit der 1,3-Millionen-Metro-City als Motor, segelt im Fahrtwind des Fortschritts: 10,6 Prozent Wirtschaftswachstum vermeldet die Regierung für 2011, angekurbelt durch die Erweiterung des Panamakanals, Infrastrukturprojekte der öffentlichen Hand plus ausländische Investitionen im Banken- und Immobiliensektor.
Nur gute Nachrichten
Panamas Wirtschaftsleistung steckt zu 77 Prozent in der Dienstleistungsbranche: im Betrieb des Kanals und der Hafenanlagen, in der Freihandelszone von Colón, der zweitgrössten nach Hongkong, in den Banken und Versicherungen, dem weltweit umfangreichsten Register all der Schiffe, die unter panamaischer Flagge fahren. US-Präsident Obama hat letzten Oktober ein Freihandelsabkommen mit Panama unterzeichnet, die OECD das Land von der grauen Liste der Steuerparadiese gestrichen.
Nur gute Nachrichten also. In der Multiplaza Pacific Mall aber langweilt sich das Personal in den Tommy-Hilfiger- und Swatch-Geschäften durch den Abend, während sich die Leute das leisten, was sie können: ein Eis von der Diele, eine Fahrt mit der Bimmelbahn für die Kinder, ein bisschen sexy Showtime für sich selbst.
Ein knappes Drittel der landesweit 3,5 Millionen Einwohner lebt in Armut. Die öffentlichen Schulen machen schlechte Figur, erschweren soziale Mobilität. Wer kann, schickt sein Kind auf eine Privatschule. Den Mangel an qualifizierten einheimischen Arbeitskräften gleichen Arbeitgeber wie Banken und Versicherungen dadurch aus, dass sie Ausländer rekrutieren, vornehmlich aus Kolumbien oder Venezuela.
Panama ist ein Schwellenland mit einem Hochfrequenzherzen: dem Kanal. Nun wird er zukunftstauglich. Eine ökonomische Notwendigkeit, denn der Trend zu grösseren Schiffen, vor allem im Containersegment, hält unvermindert an. Grössere Schiffe können die Kosten für den Sprit auf mehr chinesische T-Shirts oder südkoreanische Fernseher verteilen, sind somit profitabler als kleinere. Bereits heute passen rund 40 Prozent der weltweit operierenden Containerschiffe, Schüttgutfrachter und Tanker nicht mehr in die alten Schleusen.
Das 5-Milliarden-Projekt
Ein Grossprojekt: Für 5,25 Milliarden US-Dollar hat die Autoridad del Canal de Panamá (ACP), die für den Kanal zuständige autonome staatliche Behörde, einem internationalen Konsortium unter der Leitung des spanischen Baukonzerns Sacyr Vallehermoso den Auftrag erteilt, parallel zu den zwei alten Schleusenstrassen eine dritte zu bauen. Dank dieser wird es Post-Panamax-Giganten von der Grösse einer Emma Maersk in Zukunft möglich sein, den Kanal mit einer Ladung von 12 000 Containern zu befahren. Mit einer Unterwassersprengung samt fotogenen Wasserfontänen wurden die Arbeiten 2007 eingeläutet, 2015 sollen sie fertig sein.
Ein Grossprojekt mit Grossbaustellen: In langen, schmalen Schluchten bauen Arbeiter auf der Pazifik- und Atlantik-Seite je drei Schleusen-kammern, jede Kammer 427 Meter lang, 55 Meter breit und 18,3 Meter tief, dazu pro Schleusenkammer drei Wasserauffangbecken; baggern einen 6,1 Kilometer langen Kanal von den Pazifik-Schleusen direkt zum Culebra Cut, dem Nadelöhr durch die kontinentale Wasserscheide. Baggerschiffe vertiefen und verbreitern sämtliche Fahrrinnen, und damit das Wasser reicht, wird der Spiegel des Gatún-Sees, eines 45 000 Hektar grossen Stausees, um 45 Zentimeter angehoben. Ein einziger Fluss ist dafür verantwortlich: der Chagres, der grösste Zubringer.
Daniel Muschett, zuständig für Umweltmanagement und Projektcontrolling, sitzt im ACP Administration Building in einem noch zu Zeiten der Amerikaner getäferten Büro und sagt, er sei mit den Arbeiten zufrieden. Auch wenn es da und dort knirscht: Ausgerechnet Sacyr Vallehermoso steckt in finanziellen Schwierigkeiten. Und im Januar streikten 6000 Bauarbeiter, verlangten 17 Prozent mehr Lohn. Rund 600 US-Dollar monatlich sollen sie jetzt verdienen. Für panamaische Verhältnisse ein anständiges Salär.
Schicksal und Geldquelle
Der Kanal ist Panamas geografisches Schicksal und Einnahmequelle: Dank 14 684 Transits, vom Segelboot bis zum Containerschiff, hat die ACP letztes Jahr bei einem Gesamtumsatz von 2,28 Milliarden US-Dollar gut 7,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts erwirtschaftet und etwas mehr als eine Milliarde direkt an den Staat abgeliefert, so viel wie nie zuvor. Bis zum Jahr 2025, so der Masterplan für die Erweiterung, soll der Beitrag dank prognostizierter 16 000 Transits, markant höherer Transportvolumen und kontinuierlich verteuerter Transitgebühren auf 4 Milliarden klettern.
Um die 74 Dollar kostet es zum jetzigen Zeitpunkt, einen TEU (Twenty-foot Equivalent Unit) genannten Container durch den Kanal zu schippern, wobei ein Panamax maximal 4400 davon stapeln kann. Hinzu kommen zusätzliche Kosten wie der obligatorische ACP-Pilot, Schlepper und wenn nötig ein sogenanntes Slot, ein garantiertes Zeitfenster, um die Warteschlange zu überspringen. Der Panamakanal: auf 82 Kilometern Länge ein lukratives Geschäft.
In Zukunft wird, so schätzt die US-amerikanische Federal Highway Administration, jeder Vierte der Post-Panamax-Containerfrachter mit Gütern aus China, Japan oder Südkorea seine Ware nicht mehr an der Westküste der USA löschen, sondern die «All-Water Route» durch den Panamakanal direkt zu den Hafenanlagen an der Ostküste wählen.
Die Warenströme umlenken
Keine Handelsroute ist für den Kanal so wichtig wie die zwischen Nordostasien und der Ostküste der USA. Mehr als zwei Drittel aller Güter, die den Kanal passieren, kommen aus den USA oder gehen dorthin. Schüttgutfrachter transportieren Mais, Sojabohnen und Weizen aus den USA nach Asien. Containerschiffe bringen Elektronik und Textilien zurück. Die Erweiterung des Kanals, da sind sich alle einig, wird die Warenströme umlenken. Der «Economist» schreibt, die Erweiterung werde für die internationale Schifffahrtsindustrie annähernd so bedeutsam sein wie 1914 die Einweihung durch die Amerikaner.
Und was denkt die Bevölkerung? Anlässlich des Referendums vor sechs Jahren stimmten 78 Prozent für die Erweiterung, bei einer Stimmbeteiligung von 43 Prozent. Und heute? Mit wem auch immer man redet, Nationalstolz mischt sich mit Desinteresse. Einer bringt es auf den Punkt: «Der Kanal geht an der Realität der meisten Leute vorbei.»
Ein Dokumentarist der ACP nimmt mich mit auf die Baustellen. Wir fahren dem Kanal entlang zu den Gatún-Schleusen auf der Atlantik-Seite, vorbei an den Lagerhallen von Colón. Hinter meterhohen Mauern eine Gated Community für die arabischen Geschäftsleute in der Freihandelszone. Davor soziales Elend: Abfall auf den Strassen, schäbige Häuser, Arbeitslosigkeit.
Warten auf die Einfahrt
Von der Aussichtsterrasse oberhalb des Gatún-Sees geht der Blick hinaus aufs Wasser und hinein in die Baustelle. Ein Kreuzfahrtschiff, drei «Roros» («Roll on/Roll off») genannte Fahrzeugtransporter, ein Schüttgutfrachter und ein Tanker dümpeln auf dem See, warten auf Order zur Einfahrt in den Kanal. Hinter einem flachen Hügelkamm die alten Schleusen. Direkt unter uns die Baustelle für die neuen: eine gigantische Schlucht. Trucks, Arbeiter, Zelte, WC-Häuschen. Kranarme schwenken hin und her, Betonspritzen beugen sich über Armierungseisen. Zentimeter um Zentimeter werden die Schleusenwände aufgezogen, eingeteilt in sogenannte Monolithe, 64 auf jeder Seite.
Dort, wo jetzt der Werkhof brummt, werden später die Auffangbecken liegen. Will ein Frachter vom Atlantik in den Kanal einlaufen, wird Wasser von den Becken in die Schleusenkammern schiessen. Will er in umgekehrter Richtung auslaufen, strömt es aus den Kammern in die Becken. Durch ein ausgeklügeltes System mit Röhren, zum Teil so gross wie ein doppelspuriger Eisenbahntunnel, wird das Wasser mittels Schwerkraft und tonnenschwerer Ventile in die gewünschte Richtung geleitet. 60 Prozent lassen sich so wiederverwenden. Schlepper halten das Schiff in jeder Kammer 17 Minuten in Position, die Zeit, die es dauert, bis der Wasserspiegel ausgeglichen ist. Dreimal wiederholt sich der Vorgang, dann sind entweder 27,1 Meter über Meer erreicht, die Höhe des Gatún-Sees, oder der Atlantik.
Ein Lastkahn durchquert den Culebra Cut, beladen mit 8000 Tonnen Basalt für die Betonmaschinen von Gatún. Der Basalt stammt von der Pazifik-Seite. Bagger schaufeln ihn auf Cats mit Reifen gross wie Mühlräder. Vor Ort wird er zerkleinert, in Silos abgefüllt, auf den Lastkahn verladen. Es ist drei Uhr nachmittags, über den Förderbändern gehen die Lichter an. Aus grauschwarzem Himmel zucken Blitze überm Regenwald.
Belastung für die Umwelt
Apropos Regenwald: Wie steht es um die Umweltbelastung? Kann der Kanal noch mehr und noch grössere Schiffe verkraften? Daniel Muschett sagt, er lege für die Zeit der Bauarbeiten sein besonderes Augenmerk auf die Erosion, auf mögliche Erdrutsche und nachfolgende Sedimentablagerungen in der Wasserstrasse. Und später, wenn zusätzlich zu den Panamax die Post-Panamax den Kanal befahren: Wird das Wasser dann immer noch für alle reichen? «Ja, darum erhöhen wir den Wasserspiegel des Gatún-Sees.»
Auch die Trinkwasserqualität des Sees sei gesichert, da sich das Salz in der Nähe der Schleusen ablagern werde. Muschett nennt das «Wasser-Management»: Mit jedem aus dem Ozean in die Schleusen einlaufenden Schiff dringt Salzwasser in den Kanal, mit jedem, das den Kanal verlässt, geht Süsswasser verloren: ungefähr 208 Millionen Liter pro Panamax, 7 Prozent weniger pro Post-Panamax, dies dank der Wasserauffangbecken.
Die Menge des eindringenden Salzwassers hängt von der Wasserverdrängung ab. Je mehr TEU ein Schiff geladen hat, desto grösser die Verdrängung. Oberstes Ziel: Der Gatún-See muss sauber bleiben. Schliesslich liefert er beinahe das gesamte Trinkwasser für Panama City, Colón und die umliegenden Siedlungen. Die ACP hat bei Delft Hydraulics mehrere Studien zur Wasserqualität des Sees nach der Kanalerweiterung in Auftrag gegeben. Das Fazit der Holländer: Langfristig wird die Salzkonzentra-tion im See steigen, die Trinkwasserqualität werde dadurch aber nicht beeinträchtigt.
Donaldo Sousa hat genug vom Kanal, Erweiterung hin oder her. Er versperre, sagt er, doch nur den Blick auf den Rest des Landes. Der Bürgerrechtsanwalt, Buchautor und Präsident zweier Umweltorganisationen möchte ein anderes Panama. Umweltschutz statt Ressourcenausbeutung, Zivilgesellschaft statt Klientelismus. Sieht er Anzeichen dafür? Nein, ausser: Silvia Carrera, die Indio-Anführerin der Ngöbe-Buglé. «Da blockiert doch diese Indígena in Flipflops mit ihren Mitstreitern die Interamericana. Und die Regierung muss klein beigeben. Die Bergbaugesellschaft zieht ab.» Da muss Donaldo Sousa lächeln, zum ersten Mal.
Ein notwendiges Risiko
«Die Kanalerweiterung ist notwendig, aber sie ist nicht risikofrei», sagt Guillermo Castro, akademischer Direktor der Ciudad del Saber/City of Knowledge in Clayton. Er fragt sich, ob es nicht gescheiter wäre, das Trinkwasser statt aus dem Gatún-See aus dem Chepo zu gewinnen, dem Fluss auf der Seite von Panama City. Antwort kriegt er keine: «Wir hängen vom Wasser ab. Aber unsere Universitäten bilden keinen einzigen Hydrologen aus.»
Die Ciudad del Saber ist eine regierungsunabhängige Stiftung und einzigartig in Panama. Auf dem 120 Hektar grossen Gelände des früheren Hauptquartiers der US Army South hat sich in mehr als 200 Gebäuden eingemietet, was mithelfen kann, das Land voranzubringen: unter anderem ein Business Hub, ein Technopark, eine Hotelfachschule. Die mexikanische Privathochschule Monterrey Tec hat hier ebenso einen Ableger wie die amerikanische University of Florida. In Panama, sagt Guillermo Castro, gehe es in erster Linie darum, Wissensdefizite abzuarbeiten: «Wir müssen erst noch lernen, nicht nur den Kanal zu erweitern, sondern auch unser Potenzial.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 26.10.12