Ein Handschlag schüttelt die Schweiz

An der Sekundarschule Therwil ist nichts mehr Alltag. Dass zwei muslimische Schüler ihren Lehrerinnen nicht mehr die Hand reichen müssen, beschäftigt Schüler, Lehrer und den Gemeindepräsidenten – und auch der Furor darüber. Eine Spurensuche vor Ort.

Entscheid mit gewaltigen Konsequenzen: Sekundarschule Känelmatt, wo die Affäre ihren Anfang nahm.

(Bild: Renato Beck)

An der Sekundarschule Therwil ist nichts mehr Alltag. Dass zwei muslimische Schüler ihren Lehrerinnen nicht mehr die Hand reichen müssen, beschäftigt Schüler, Lehrer und den Gemeindepräsidenten – und auch der Furor darüber. Eine Spurensuche vor Ort.

Die Kinder der Sekundarschule Känelmatt in Therwil sind mitten im Unterricht. Man sieht sie in der Sporthalle Turnmatten wegräumen, im Handarbeitszimmer traktieren sie Tuchstücke mit der Nähmaschine. Sie beugen sich über ihre Hefte, während ein Lehrer ein Diktat hält. Schulalltag an einer Schule, an der nichts mehr Alltag ist.

Am Wochenende machte die «Schweiz am Sonntag» publik, dass die Känelmatter Schulleitung zwei Schüler davon entbunden hat, den Lehrerinnen beim Betreten des Klassenzimmers die Hand zu geben. Seither tobt in der Schweiz eine Debatte mit relationsloser Intensität. Denn der Dispens hatte einen religiösen Hintergrund. Er wurde erteilt, weil die beiden Schüler, zwei Brüder im Alter von 14 und 15 Jahren, den Handschlag mit Verweis auf ihren muslimischen Glauben verweigert hatten.

«Das hätte nicht bewilligt werden dürfen.»

Schüler, Sekundarschule Therwil 

Die Meinungen der Sekundarschüler zum Vorgang sind unterschiedlich, aber meistens differenziert. Ein Junge sagt: «Ich verstehe die ganze Aufregung nicht, das ist doch keine grosse Sache. Ich finde das Verhalten der beiden schon komisch, aber wenn es für sie aus religiösen Gründen nicht möglich ist, dann ist das halt so.» In seiner Klasse würden die meisten so denken, sagt er noch.

Ein anderer Schüler sieht die Sache anders: «Das hätte nicht bewilligt werden dürfen. Alle müssen sich den Regeln hier anpassen. Wir ziehen ja auch unsere Schuhe aus, wenn wir eine Moschee betreten.» Und auch er bekräftigt, damit den Konsens in seiner Klasse zum Ausdruck zu bringen.

Die Schule wird mit Beschimpfungen eingedeckt

Ein Mädchen findet, sie verstehe, dass die Situation für die beiden Schüler nicht einfach sei, weil sie in einem Konflikt stünden. Trotzdem hätte die Schule auf dem Handschlag beharren müssen: «Das ist eine Frage des Respekts. Indem sie den Lehrerinnen die Hand nicht geben, verweigern sie ihnen gegenüber den Respekt. Diesen zu zeigen ist wichtig bei der Integration.»

Auf dem Schulareal ist wieder Ruhe eingekehrt, nachdem in den letzten Tagen Fernsehstationen aus Basel und Zürich mit den Kameras angerückt waren und der «Boulevard» vor der Tür stand. Doch die Wertedebatte tobt auf den Aufschlagseiten der Zeitungen, in den Hauptnachrichtensendungen, auf Facebook sowieso, rüde weiter. Die Schule werde mit Beschimpfungen eingedeckt, beklagt ein Lehrer.

Um alles und nichts weniger geht es in der Debatte: um den Händedruck als gutschweizerische Sitte und den Respekt gegenüber Frauen als unverhandelbaren Grundwert, um falsch verstandene Toleranz, verfehlte Integration, um Parallelgesellschaften und den radikalen Islam mitten unter uns.

Schüler besuchen Faysal-Moschee

Jeder Winkel der Geschichte wird ausgeleuchtet. Die Facebook-Profile der Teenager werden ans Licht gezerrt, Familienmitglieder befragt, die Kantone und Gemeinden nach weiteren Fällen durchleuchtet, fündig wird man auch noch in Muttenz. «20 Minuten» identifiziert schliesslich die Moschee, welche die syrischen Brüder aufsuchen. Es ist die Faysal-Moschee an der Basler Friedensgasse, ihr Vater soll dort Imam sein.

Moscheeleiter Nabil Arab versucht gegenüber «20 Minuten» zu erklären, dass die Verweigerung des Händedrucks aus Respekt geschehe und nicht aus Missachtung. Weil jeder Körperkontakt mit fremden Frauen in seiner Glaubenslehre eine sexuelle Konnotation beinhalte. Er sagt auch, er verstehe, dass die Verweigerung des Handschlags als Beleidigung empfunden werde. Und: dass alle miteinander reden und tolerant sein sollen.

Arabs Aussagen sind eine Gratwanderung. Zwischen dem, was sein soll, aber nicht sein darf.

Der Rektor steht im Zentrum des Shitstorms

Eine Gratwanderung hat auch Jürg Lauener unternommen, Rektor der Sekundarschule Therwil. Lauener steht im Zentrum des Sturms der Entrüstung. Er hat die Schüler im Dezember letzten Jahres zum Gespräch gebeten, als deren Lehrerinnen die Verweigerung des Handschlags monierten.

«Wir dachten, das lässt sich nicht disziplinarisch lösen», sagt Lauener bei «Tele Züri». Es sei nicht gleich zu bewerten, wie wenn Schüler aus religiösen Gründen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen. Beim einen Fall gehe es um den Bruch mit einer Usanz, beim anderen um die Nichterfüllung der Unterrichtspflicht. Also erlaubte er den Brüdern, Lehrern und Lehrerinnen nicht mehr die Hand zu geben. Schüler, Lehrer und Schulleitung einigten sich auf eine höfliche Begrüssung ohne Körperkontakt.

«Was will die Schule machen? Jeder Fall muss individuell beurteilt werden.»

Bernard Gertsch, Präsident des Verbands Schweizer Schulleiter 

Bernard Gertsch, Präsident des Verbandes Schweizer Schulleiter, äussert als seltene Fachstimme derzeit Verständnis für den Therwiler Entscheid: «Die Schulleitung muss in einer solchen Situation eine tragfähige Lösung finden. Es ist schwierig, mit einer absoluten Verweigerung umzugehen. Was will die Schule machen? Jeder Fall muss individuell beurteilt werden.» 

Nach dem Kompromiss bat Lauener die Bildungsdirektion in Liestal um Richtlinien, wie in derartigen Fällen zu verfahren sei. Die Direktion antwortete, man werde ein Rechtsgutachten in Auftrag geben. «Sollte dieses unsere Lösung infrage stellen, werden wir die Vereinbarung anpassen», sagt der Therwiler Rektor.

Abwägen zwischen den Welten

Lauener hat versucht, die manchmal gegensätzlichen Welten von Faysal-Moschee und schweizerischen Gepflogenheiten in Einklang zu bringen. Er hat abgewogen zwischen dem Bedürfnis Einzelner und den für Schulen unerlässlichen allgemeingültigen Regeln. Und dann eine aus seiner Sicht «pragmatische Lösung» gefunden. Vier Monate lang hatte diese, ohne beanstandet zu werden, Bestand.

Erst als eine Lehrerin in einer «Arena»-Sendung Ende März den Fall antönte, fahndeten Journalisten nach der Schule, wurden fündig und lösten die Welle der Empörung aus. Gestern äusserte sich auch noch Justizministerin Simonetta Sommaruga in der Sendung «10vor10» zum Fall Therwil.

Sie hätte viele Dinge sagen können. Dass sie die Bemühungen der Schulleitung grundsätzlich schätze, aber die Lösung aus ihrer Sicht bedenklich sei, etwa. Stattdessen sagte sie: «Dass ein Kind sich weigert, seiner Lehrerin die Hand zu geben, das geht nicht. Das hat auch unter dem Titel Religionsfreiheit nichts zu suchen. Und was ich deutlich sagen muss: So stelle ich mir Integration nicht vor.» Platz für Zwischentöne gibt es keinen mehr.

«Mich erschreckt die Vehemenz in der Debatte.»

Reto Wolf, Gemeindepräsident Therwil 

In den Kommentarspalten wird jetzt Laueners Absetzung gefordert. Denn er hat bei seinen Überlegungen eine Welt ausser Acht gelassen: jene der Symbolik.

«Die Schulleitung hat nicht verstanden, welche Signalwirkung dieser Entscheid hat», stellt Reto Wolf fest, der Gemeindepräsident Therwils. Der FDP-Politiker nimmt Lauener in Schutz: «Das ist kein naiver Romantiker. Er hat eine schnelle, pragmatische Lösung gesucht.» Doch er habe die enorme emotionale Tragweite des Entscheids ausser Acht gelassen.

«Was jetzt passiert, ist schon irritierend, das ist ein Riesen-Shitstorm, der da läuft. Mich erschreckt die Vehemenz in der Debatte», sagt Wolf. Die BBC hat ihn angerufen und um ein Live-Interview für die weltweite Nachrichtensendung gebeten. Wolf lehnte ab: «Mein Englisch ist dafür nicht gut genug, da lauern so viele Fallen.»

Bildungsdirektion in der Kritik

Wolf hält die Diskussion für übertrieben – und den Känelmatter Kompromiss für falsch. Weil «mit einem verwehrten oder erteilten Händedruck eine Aussage gemacht wird». Auch, weil damit den beiden Schülern nicht geholfen sei. «Wie wollen sie mit dieser Einstellung eine Lehrstelle finden? Die fliegen überall hochkant raus, wenn sie einer Frau nicht die Hand geben wollen.»

Doch die alleinige Schuld jetzt auf die Schulleitung zu schieben, sei ebenso falsch. «Unser Bildungssystem ist stark zentralisiert. Die Entscheide auf Sekundarstufe werden in Liestal gefällt. Dort jetzt einfach zu sagen, man habe ein Gutachten in Auftrag gegeben, ist zu wenig. Es braucht jetzt sofort eine politische Entscheidung.» Bildungsdirektorin Monica Gschwind hätte sofort ein Rundschreiben an alle Schulen schicken müssen. «Es ist ja nicht das erste Mal, dass eine solche Debatte aufkommt.»

Aufarbeitung hat eingesetzt

Wolf hofft, dass die Debatte bald abebbt: «Das ist nicht die Art von Werbung, die wir uns für Therwil wünschen.» In der Sekundarschule Känelmatt hegen sie auch eine Hoffnung: Dass aufgrund der wütenden Debatte bei den Kindern nichts kaputt geht. Deshalb wird eine intensive Aufarbeitung der Ereignisse betrieben. In den Klassen bitten die Lehrer um eine Diskussion. Schüler sollen sagen, was sie davon halten, was sie empfinden, was sie stört, die Lehrer nehmen entgegen und versuchen zu erklären, warum man so entschieden hat.

Stunde um Stunde wird diskutiert. Irgendwann ist grosse Pause und der Handschlag weit weg. Auf dem Schulhof erzählt ein vielleicht 12-jähriger Junge seinen Kollegen vom Saharasand, der gerade auf die Region rieselt: «Sand aus der Sahara, stell dir das vor!» Er kratzt den Sand von den Motorhauben der Autos in seinem Quartier und sammelt ihn. Der Junge zeigt ein halbvolles Einmachglas mit golden schimmerndem Sand. Es ist seine Kinderwelt, fernab des wogenden Wertekampfes. 

Artikelgeschichte

6.4.2016, 18 Uhr: Aufgrund eines Fehlers beim Gegenlesen der Zitate hat Bernard Gertsch seine Aussage präzisiert.

Folgendes Zitate wurde revidiert: «Was will die Schule machen? Etwa die Polizei rufen? Ein Schulausschluss wäre auch eine Überreaktion, die zu einer weiteren Desintegration führen würde.»

Gertsch sagt: «Was will die Schule machen? Jeder Fall muss individuell beurteilt werden.»

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