Ein Land im Griff der Eliteschul-Clique

Sie sind gleich alt, sie haben die gleiche Schule besucht und sie leiten heute den französischen Staatsapparat: Niemand hat in Paris so viel Macht wie der Jahrgang 1980 der Kaderschmiede ENA.

Diese Studis regieren heute das Land: (v.l.) Ségolène Royal, François Hollande, Michel Sapin, Jean-Pierre Jouyet und auch der ehemalige Premier Dominique de Villpin schloss die ENA 1980 ab. 

Sie sind gleich alt, sie haben die gleiche Schule besucht und sie leiten heute den französischen Staatsapparat: Niemand hat in Paris so viel Macht wie der Jahrgang 1980 der Kaderschmiede ENA.

Die Meldung machte keine fetten Schlagzeilen. Mitte Juli ernannte der französische Präsident François Hollande einen neuen Stadtpräfekten von Paris. Der strategische Posten – sein Inhaber muss Demonstationen und andere revolutionäre Anwandlungen der Seine-Stadt kontrollieren – ging an Michel Cadot, einen früheren Präfekten an der Côte d’Azur. Er hatte Hollandes Wege schon 1980 gekreuzt: Damals drückten die beiden gemeinsam die Bänke der Ecole Nationale d’Administration (ENA). So etwas vergisst man auch nach 35 Jahren nicht.

1980 war überhaupt ein guter Jahrgang. Weniger für den Bordeaux-Wein als für die Pariser Eliten. Kaum ein Jahrgang ergab so reiche Ernte wie die so genannte «Promotion Voltaire» jenes Jahres. Nie zuvor haben es mehr Absolventen eines Jahrgangs in die höchsten Sphären der französischen Staates geschafft.

Und das will etwas heissen: An den beiden ENA-Zentren in Strassburg und Paris schliessen jedes Jahr 80 Schülerinnen und Schüler ab, viele von ihnen entwickeln sich später zu Spitzenfunktionären, Beratern, Magistraten, Kabinettsvertretern und Staatsfirmenchefs. Der ENA entstammen auch Dutzende von Ministern, sieben Premierminister sowie drei Staatspräsidenten – Valéry Giscard d’Estaing, Jacques Chirac und eben François Hollande.

Ein Kabinett voller Jahrgänger

Die «Promotion Voltaire» – den Namen ihrer Abschlussklasse bestimmen die Absolventen jeweils selber – erhielt 1980 auch Hollandes ehemalige Lebenspartnerin Ségolène Royal, mit der er vier Kinder hat. Die beiden lernten sich beim ENA-Pauken kennen und lieben; auch wenn sie heute privat getrennt leben, holte der heute 60-jährige Hollande die ehemalige Präsidentschaftskandidatin als Umweltministerin in seine Regierung.

Und sie war nicht die einzige. Eine noch wichtigere Rolle spielt in der aktuellen Regierung Finanzminister Michel Sapin, Hollandes versierter «Griechenland-Manager». Auch er entstammt dem ominösen Voltaire-Jahrgang. Zur zentralen Figur in der Präsidial-Administration, das heisst zum Generalsekretär des Elysée-Palastes, bestimmte der Staatschef Pierre-René Lemas – auch er ein «Voltairien», wie man in Paris sagt.

Als Lemas vor gut einem Jahr aus persönlichen Gründen abtrat, bestimmte Hollande als Nachfolger Jean-Pierre Jouyet. Der geschliffene Spitzenfunktionär ist ein interessanter Fall, hatte er doch schon unter der Rechten gedient. Nicolas Sarkozy machte ihn 2007 zu seinem Europa-Staatssekretär. Nach einem Interregnum als Chef der Pariser Finanzmarktaufsicht stellte sich Jouyet nahtlos in den Dienst der Linken. Oder besser gesagt von Hollande, den er aus dem zweijährigen ENA-Kursus von 1979 bis 1980 kennt.

«Auswechselbaren Technokraten»

Auch Sylvie Hubac, Hollandes bisherige Kabinettschefin, eine Treue unter den Getreuen, war «Voltairienne». Im Dezember 2014 liess Hollande sie auf ihren Wunsch ziehen. Auf sie folgte Thierry Lataste – der nur insofern aus der Reihe tanzt, als er nicht dem Jahrgang 1980 der ENA angehörte, sondern 1982. Die damalige «Promotion» benannte sich nach Henri François d’Aguesseau, einem Spitzenbeamten am Königshof des 18. Jahrhunderts.

Mit Michel Cadot ist jetzt also auch der Pariser Polizeipräfekt ein Voltairist. Viele Pariser Medien schnöden über Hollandes «Eliteschul-Clique» und «Schattenkabinett»; andere ärgern sich über die «auswechselbaren Technokraten», die so «konformistisch» seien, dass sie genauso gut unter der Rechten wie Linken dienen können.

In Paris ist es schlicht unmöglich, eine Regierung ohne ENA-Absolventen zusammenzustellen. Die Enarchen sind überall.

Doch diese Kritik ist nicht neu; schon der verstorbene Soziologe Pierre Bourdieu war immer wieder über die identitätslose Ideologie der Enarchen, wie die ENA-Absolventen auch genannnt werden, hergezogen. Michèle Pappalardo kennt die Verhältnisse in dieser von Charles de Gaulle 1945 gegründeten Funktionärsbleiche aus dem Innern, da sie selbst ENA-Jurorin war – und höhnt in einem Buch über die «Windschnittigkeit» der 1600 ENA-Kandidaten und 80 Absolventen im Jahr: Diese gelobten, schreibt sie, zwar allesamt das System zu erneuern, erwiesen sich aber im besten Fall als «Sandkasten-Rebellen».

Sarkozy war selbst kein Enarch und versprach mehrfach, die ENA zu reformieren, wenn er einmal im Elysée sei. Den Plan verwirklichte er nie. Und das nicht nur, weil die Widerstände zu gross gewesen wären: In Paris ist es schlicht unmöglich, ein Kabinett oder eine Regierung ohne ENA-Absolventen zusammenzustellen. Die Enarchen sind überall.

Kontinuität in der grossen alten Nation

Unter Hollande mehr denn je. «Sein» Jahrgang 1980 profitierte davon, dass ein Jahr später die Sozialisten unter François Mitterrand erstmals ins Elysée einzogen. Viele ENA-Absolventen wie Hollande, Royal oder Sapin wurden dadurch über Nacht in höchste Beraterstellen katapultiert. Und seither ziehen sie ihre ehemaligen Klassenkameraden nach.

So dürfte die Kontinuität in der langen Geschichte der Grande Nation gewährleistet bleiben. Ob Wind oder Sturm, linker oder rechter Wahlsieg, Schäuble oder Tsipras – die Enarchie wacht darüber, dass die Pariser Elite, das heisst sie selbst, den gewaltigen Staatsapparat kontrolliert und dafür sorgt, dass er sich auch noch lange nicht wirklich verändern wird.

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