Am Wochenende stimmt das Bünderland über die Olympiakandidatur ab. Laut Umfragen zeichnet sich eher eine Ablehnung ab – obwohl bei einem Ja fast so gut wie sicher ist, dass die Winterspiele 2022 in St.Moritz und Davos stattfinden würden. Ernsthafte Rivalen gibt es kaum.
Man muss kein Olympia-Fan sein, um die Frage nach den Chancen der Bewerbung Graubündens für die Olympischen Winterspiele 2022 optimistisch zu beantworten: Die Aussichten sind hervorragend.
Diese Einschätzung ergibt sich allein schon aus der Konkurrenzsituation. Ausser einem Interesse der Ukraine und relativ vagen Überlegungen in München und Oslo, die aus verschiedenen Gründen meilenweit der Offerte von Davos und St. Moritz respektive der Sportdachorganisation Swiss Olympic hinterherhinken, steht derzeit kein Konkurrent bereit.
Wenn also die Bündner am Wochenende bei der Volksabstimmung für Olympia votieren und im Sommer der Bundesrat das Projekt absegnet, wäre Graubünden mit der Host-City St. Moritz Favorit. Die Winterspiele könnten nach 1928 und 1948 zum dritten Mal in der Eidgenossenschaft ausgetragen werden. Die Entscheidung darüber fällt schliesslich die Vollversammlung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) am 31. Juli 2015 in Kuala Lumpur.
Die Schweiz ist olympiareif
Dies ist die rein sportpolitische Einschätzung, wenn man die anderen Parameter für einen Moment vernachlässigt: zum Beispiel die zu Recht hart geführte Diskussion über ausufernde Kosten, olympische Intransparenz, Gigantismus und Nachhaltigkeit eines solchen Mega-Events.
Die Schweiz ist olympiareif und olympiawürdig. Ihre Politiker katzbuckeln seit Jahrzehnten vor Sportkonzernen wie dem IOC oder dem Fussball-Weltverband Fifa, gewähren Steuererleichterungen und allerlei andere Subventionen.
Kein Land hat mehr IOC-Mitglieder (fünf), die bestens vernetzt sind und ihr Business beherrschen. Ausserdem garantieren die Luxusherbergen im Bündnerland dem IOC-Völkchen und anderen Super-VIPs standesgemässe Exklusivität. Zwar bröckelt das Bankgeheimnis ein wenig, doch würden etliche dubiose Vertreter der olympischen Familie den Umstand zu schätzen wissen, sich während der Winterspiele 2022 intensiv ihren Nummernkonten und Privatgeschäften widmen zu können.
Heimat für 60 Sportverbände
Vieles spricht für die Schweiz. Als ein Kernland des Wintersports erfüllt sie alle Bedingungen für den Ringe-Zirkus. Sie beherbergt zudem rund 60 internationale Sportverbände, nicht nur das IOC und die Fifa. Auch die drei wichtigsten der sieben olympischen Wintersportverbände sind in der Eidgenossenschaft domiziliert: der Eishockeyverband IIHF (Zürich), der Ski-Weltverband FIS (Oberhofen/Thunersee) und der Eislauf-Weltverband ISU in Lausanne, der Capitale Olympique.
Die Schweizer IOC-Mitglieder dürften in Kuala Lumpur zwar nicht für die eigene Kandidatur stimmen, was die IOC-Regeln verbieten, sind aber allesamt so gewandt und gerissen, dass man ihnen zutrauen darf, problemlos Stimmen der 100 anderen IOC-Mitglieder zu akquirieren – wenn sie denn wollen, wenn ihre privaten Interessen mit den nationalen korrespondieren. Zum formidablen Quintett aus der ersten Reihe des Olymps gehören:
● René Fasel, Präsident des Eishockey-Weltverbandes IIHF und Mitglied des IOC-Exekutivkomitees,
● Denis Oswald, Präsident des Ruder-Weltverbandes Fisa (mit Sitz in Lausanne),
● Gian-Franco Kasper, Präsident des Ski-Weltverbandes FIS,
● Patrick Baumann, Generalsekretär des Basketball-Weltverbandes Fiba (mit Sitz in Cointrin),
● sowie die Skandalnudel Joseph Blatter, Präsident des Fussball-Weltverbandes Fifa (mit Sitz in Zürich).
Eine imposante Liste. Die Herrschaften sind mit allen Wassern gewaschen. Blatter darf man als Korruptionsexperten bezeichnen. Auch Fasel, dem wie Oswald Ambitionen auf die IOC-Präsidentschaft nachgesagt werden, ist nicht ganz ohne: Er betreibt manches Geschäft, gern in Russland, und wurde 2010 vom IOC-Exekutivkomitee wegen eines Interessenskonfliktes im Zusammenhang mit TV- und Marketingrechten gerügt.
Ja, es bleibt vieles in der Familie. TV- und Marketingrechte, darauf sind Schweizer Firmen und Funktionäre spezialisiert. Da lassen sich allerlei diskrete Abmachungen treffen, Karrieren beschleunigen, Familienmitglieder beschäftigen und Verdienste generieren. Blatters Neffe Philippe zum Beispiel leitet die Geschäfte der in Zug beheimateten Firma Infront, eines Global Players in diesem Business. Der Infront-Konzern ist mit voluminösen Paketen (insgesamt in Milliardenhöhe) etwa mit der Fifa, der FIS, der IIHF oder dem skandalumtosten Rad-Weltverband UCI verkuppelt. Im Infront-Reich, bei der Entertainmentgruppe Infront-Ringier, hat auch Fasels Sohn Pierre eine gut dotierte Anstellung gefunden.
Es zählt der subjektive Faktor
Die Vergabe Olympischer Spiele ist ein völlig irrationaler Wettbewerb. Zwar existieren einige Regeln, die sich das IOC nach dem Bestechungsskandal um die Winterspiele in Salt Lake City im Jahr 1999 verordnen musste, nur hält sich kaum jemand daran.
Es geht nicht um den objektiv besten Bewerber, obgleich sich aus dem Datenmaterial vergangener Spiele und Bewerbungen sowie den aktuellen Offerten problemlos eine saubere Rangliste generieren liesse. Aber das will das IOC gar nicht. Der subjektive Faktor muss dominieren. Es ist Platz für allerlei Manipulationen.
Bester Beweis dieser These ist das Faktum, dass selten eine Offerte gewann, die in den Berichten der IOC-Evaluierungskommissionen Bestnoten erhalten hatte: Bei Winterspielen waren das zuletzt Salt Lake City (USA/2002) und Vancouver (Kanada/2010). Wobei die Amerikaner seinerzeit mit millionenschweren Bestechungsleistungen nachgeholfen hatten.
Es war ein Schweizer Sportfunktionär, der im Dezember 1998 am Rande der IOC-Exekutivsitzung im IOC-Glaspalast in Lausanne darüber schimpfte: Marc Hodler, der inzwischen verstorbene ehemalige IOC-Vizepräsident und langjährige Chef des Ski-Weltverbandes FIS.
Die Rache des Ringe-Konzerns
Hodlers Plaudereien über die Vorgänge in Salt Lake City lösten die grösste Krise in der IOC-Geschichte aus. Partiell sorgte das für Säuberungen im Ringe-Konzern, zehn Mitglieder verabschiedeten sich unter Druck oder wurden auf einer Krisensession ausgeschlossen.
Doch das Imperium schlug zurück und rächte sich an Hodler und seinen generösen Schweizer Gastgebern: Die Olympiabewerbung von Sion wurde abgestraft. Turin setzte sich auf der IOC-Session in Seoul im Juni 1999 klar mit 53:36 Stimmen durch. Es war ein Racheakt des Establishments. Es war auch ein Sieg der Millionen des damaligen Fiat-Patrons Gianni Agnelli. Nur für Chronisten: Helsinki, Klagenfurt, Poprad (Slowakei) und Zakopane (Polen) befanden sich ebenfalls im Olympia-Wettbewerb.
Der derzeitige IOC-Präsident Jacques Rogge (Belgien) scheidet im September 2013 nach zwölf Jahren turnusgemäss aus dem Amt. Favorit auf seine Nachfolge ist der Deutsche Thomas Bach, der mit aller Macht eine Olympiabewerbung von München für 2022 verhindern will, weil er fürchtet, Münchens neuerliche Olympia-Ambitionen könnten seine IOC-Präsidentschaft gefährden. Auch diese Konstellation spricht für Graubünden.
Jacques Rogge war 2001 mit dem Versprechen angetreten, die Olympischen Spiele bezahlbarer und nachhaltiger zu machen. Auch mit diesem Vorhaben ist er gescheitert. Denn in seiner Ära stehen Athen (Sommer 2004), Peking (Sommer 2008), Sotschi (Winter 2014) und Rio de Janeiro (Sommer 2016) für olympischen Gigantismus. Allenfalls in Vancouver (Winter 2010) und mit grossen Abstrichen in London (Sommer 2012) wurde nachhaltig agiert – und selbst in London begann alles mit einer grossen Lüge über die Kosten, als die Regierung in der Bewerbungsphase ein entsprechendes Gutachten verheimlichte.
Es gibt natürlich viele gute Gründe, Graubünden mit dem Olympia-Projekt als überfordert zu betrachten. Andererseits ist es gerade bei Winterspielen wieder mal an der Zeit, mit kleinen, aber feinen Spielen zu punkten.
Der sogenannte Organisationsetat (Ocog-Etat) ist bei so ziemlich allen Ausrichtern gleich und bewegt sich in Höhe von maximal zwei Milliarden Franken. Die wahren Kosten werden jedoch in das Infrastruktur-Budget, den das IOC Non-Ocog-Etat nennt, und meist noch in einen dritten Etat ausgelagert. Im russischen Sotschi (2014) und im südkoreanischen Pyeongchang (2018) wurden für die Winterspiele ganze Berglandschaften gerodet und zweistellige Milliardensummen verbaut.
Die Knebelverträge des IOC
So schlimm würde es in der Schweiz gewiss nicht werden, immerhin findet sich eine politische Mehrheit dafür, die öffentlichen Zuschüsse möglichst gering zu halten. Nur geht es auch hier schon um mehr als zwei Milliarden Franken aus öffentlichen Kassen – für Infrastruktur, Sicherheit und allerlei Bürgschaften. Erfahrungsgemäss explodieren derlei Olympia-Etats ständig. Vorsicht ist also geboten. Mit den Knebelverträgen des IOC ist nicht zu spassen.
Schon für die Winterspiele 2018 interessierten sich so wenige Städte wie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr: Nur Pyeongchang und München waren echte Kandidaten. Das IOC nahm flink noch Annecy (Frankreich) mit in die Endrunde, um einen grösseren Wettbewerb vorzutäuschen.
Pyeongchang erhielt im Juli 2011 schliesslich den Zuschlag, nachdem es zuvor für 2010 an Vancouver und für 2014 an Sotschi gescheitert war. Auch für die Sommerspiele 2020, die das IOC im September dieses Jahres vergibt, war die Zahl der Bewerber überschaubar: Doha (Katar) und Baku (Aserbaidschan) wurden in der Vorrunde aussortiert.
Monti zog die Notbremse
In Italien stoppte der damalige Ministerpräsident Mario Monti, damals gerade angetreten, um den Staatshaushalt zu sanieren, die Olympia-Offerte von Rom. Monti sprach von «Vernunft» und «Verantwortung», die bei derartigen milliardenschweren Abenteuern dominieren müssten.
Es blieben also nur Istanbul, Tokio und Madrid im Wettbewerb, wobei Madrid, nun ja, auch so ein Streichkandidat – kein ernsthafter Anwärter mehr ist, nicht nur wegen der defizitären Finanzlage.
Normalerweise wird gern in der olympischen Dialektik argumentiert, wonach die Vergabe der Winter- und Sommerspiele, jeweils in den ungeraden Jahren zwischen den Mega-Sportfesten, im Zusammenhang zu betrachten wären. Angesichts der Wirtschaftslage und des desaströsen internationalen Interesses lassen sich diese Überlegungen vernachlässigen.
Ob die Sommerspiele 2020 in Istanbul oder Tokio stattfinden, kann möglichen Schweizer Bewerbern ziemlich egal sein, denn noch einmal: Entscheiden sich die Bürger für das Abenteuer, steht Graubünden allein auf weiter Flur, ohne ernsthaften Herausforderer. Für Winterspiele kommen ohnehin nur maximal 20 Nationen auf drei Kontinenten infrage. 2018 ist Asien dran mit Südkorea. 2022 werden die Spiele definitiv in Europa ausgetragen, denn eine nordamerikanische Bewerbung wird es nicht geben.
Keine Saubermänner
Als Saubermänner würden die Schweizer gewiss nicht ins Rennen gehen. Denn das bisher grösste Korruptionsgeflecht des olympischen Sports, weitgehend ungeahndet, wurde in der Schweiz etabliert: Die Firmengruppe ISL/ISMM, einst Weltmarktführer im Sportbusiness, hatte bis zu ihrem Konkurs im Jahr 2001 über zwei Jahrzehnte höchste Sportfunktionäre geschmiert, um TV- und Marketingverträge zu erhalten – und auch im olympischen Bewerberbusiness mitzuspielen.
Gerichtlich verbrieft sind 142 Millionen Franken Bestechungsgeld vor allem für Fifa-Funktionäre und IOC-Mitglieder. Zur Rechenschaft gezogen wurde kaum jemand, etliche Schmiergeldempfänger sind noch im Amt und würden wohl 2015 auch über das olympische Schicksal von Graubünden entscheiden.
Das ISL-Bestechungssystem wurde von Zug aus organisiert (in diesen Büros sitzt jetzt die Infront) und trug gewissermassen einen amtlichen Stempel: Im ISL-Strafprozess wurde 2008 publik, dass die eidgenössische Steuerverwaltung, die üblichen Verdächtigen aus der Bankenbranche und renommierte Wirtschaftsberatungsgesellschaften wie die KPMG das ISL-System mitgetragen haben. Auch das gehört zur olympischen Tradition: Die Schweiz ist ein Paradies für Geber und Nehmer.
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Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04.01.13