Ein Zug wird kommen – aber wann?

Schuldenberge, Misswirtschaft, Schlendrian: Keine andere Staatsfirma symbolisiert auf so eindrucksvolle Weise die Wirtschaftsmisere Griechenlands wie seine Staatsbahn. 

Die griechische Staatsbahn fährt mit alten Zügen. Die neusten sind seit über 20 Jahren in Betrieb. (Bild: Foto: Reuters/Grigoris Siamidis)

Schuldenberge, Misswirtschaft, Schlendrian: Die griechische Staatsbahn wird zum Symbol für die Wirtschaftskrise. 

Im Sommer 1987 durfte ich mir nach dem Abitur einen Traum erfüllen: mit dem Interrail-Ticket einen Monat lang kreuz und quer durch Mitteleuropa. Die Reise begann in Athen, führte quer durch Jugoslawien nach München, anschliessend nach Zürich und Köln, Kopenhagen, Wien und Budapest. Alle Züge sind pünktlich gefahren. Nur einmal erlebten wir eine nervenraubende Verspätung und das direkt vor der Abfahrt in Griechenland: Zweieinhalb Stunden hat die alte Diesellok der griechischen Staatsbahn OSE für die Fahrt von Piräus nach Athen gebraucht – für eine Strecke von zehn Kilometern.

Täglich zwei Millionen Schulden

Seitdem hat sich wenig geändert bei der Staatsbahn. Dieselzüge bedienen weiterhin die einzige profitable Strecke, die von der Hauptstadt Athen nach Thessaloniki im Norden des Landes führt. Verspätungen gehören zum Bahnalltag. Kundenservice bleibt ein Fremdwort; erst seit 2010 sind Onlinereservierungen und -fahrkartenbestellungen möglich. Zudem wird die Staatsbahn schlecht gemanagt und in den Abgrund gewirtschaftet. 2010 erreichten ihre Schulden dreizehn Milliarden Euro, und jeden Tag kommen zwei Millionen dazu, wobei die Einnahmen aus dem Fahrkartenverkauf nicht einmal 30 Prozent der Personalkosten decken. Keine andere Staatsfirma symbolisiert auf so eindrucksvolle Weise die heutige Wirtschaftsmisere des Landes.

Dabei wagte die griechische Staatsbahn schon vor drei Jahren den Befreiungsschlag: Giorgos Giannoussis, ein Experte der EU-Kommission für Regionalpolitik, übernahm den Chefposten der Staatsbahn und wurde damit beauftragt, ein Konzept für die Modernisierung und Teilprivatisierung des Unternehmens auszuarbeiten und dabei insbesondere dessen Schuldenlast und Personalkosten zu reduzieren.

Gianoussis erinnert sich an so manch unglaubliche Geschichte: «Die Vorschriften zur Regelung der Eisenbahnsicherheit in Griechenland sehen heute noch vor, dass in jedem Zug zwei Lokführer mitfahren müssen, was aufgrund moderner Technik eigentlich nicht mehr notwendig ist. Also habe ich versucht, diese Regelung zu ändern, um Personalkosten zu sparen. Daraufhin musste ich mir den Vorwurf gefallen lassen, ich sei ein Verbrecher, der den Tod unschuldiger Menschen billigend in Kauf nimmt. Aufgebrachte Gewerkschaftler haben mich während einer Vorstandssitzung mit Eiern beworfen.»

Für Giannoussis ist das Problem der Staatsbahn typisch für das heutige Griechenland. «Alte Machenschaften und Interessengruppen wollen überholte Vorschriften und Gepflogenheiten aufrechterhalten und profitieren davon auf Kosten der Allgemeinheit. Als es etwa bei mir darum ging, Leute zu fördern, die sich mit Computertechnik auskennen, haben mir die Personalverantwortlichen erklärt, dass alle 7 000 Mitarbeiter der Staatsbahn einen Computerkurs absolviert haben. Doch nur 50 oder 100 von all den Leuten konnten eine E-Mail schreiben und abschicken.»

Sein einziger Halt war die vorläufige Unterstützung durch die Politik. Doch als der zuständige Minister ging, musste auch Giannoussis sein Büro räumen. War das wirklich nötig? Er will es nicht direkt sagen, gibt aber zu verstehen, worum es ging: Es war kurz vor den Wahlen 2009, und der neue Minister konnte wohl einen Störenfried wie ihn nicht mehr gebrauchen; wahrscheinlich wollte er seine Partei-Günstlinge im Unternehmen unterbringen.

Gewiss, Griechenland ist kein Bahnland. Das gesamte Eisenbahnnetz wurde im späten 19. Jahrhundert gebaut und erstreckt sich über 2 517 Kilometer, davon werden heute nur fünf Prozent elektrisch betrieben. Anders als in der Schweiz sind Schiffe und Fernbusse das wichtigste Transportmittel für Langstrecken in Hellas. Dennoch hat die EU seit dem Beitritt Griechenlands im Jahr 1981 viel Geld investiert in die Modernisierung des Eisenbahnverkehrs.

EU fordert Geld zurück

Geschätzt fünf bis sechs Milliarden Euro aus Brüssel fliessen in die Modernisierung des Eisenbahnverkehrs in Griechenland im Zeitraum 1981–2020. Mit EU-Geldern hat man bereits so manche Strecken modernisiert. Allein für die Elektrifizierung der Nord-Süd-Strecke von der Hafenstadt Patras (heute das Tor Griechenlands zu Italien) über Athen nach Thessaloniki sind über 400 Millionen Euro nach Griechenland geflossen. Laut Zeitplan sollten die Arbeiten bis 2008 abgeschlossen sein, doch die Bahn-Bauarbeiten nehmen kein Ende. Heute droht die EU mit Subventionsentzug und fordert die griechische Regierung auf, Fördergelder nach Brüssel zurückzuüberweisen.

Trotzdem will Athen weiterhin an einem pharaonischen Jahrhundertprojekt der Staatsbahn festhalten: Die neue Nord-Süd-Verbindung mit einer Länge von 741 Kilometern im Westen Griechenlands soll die aufstrebenden Hafenstädte Patras und Igoumenitsa miteinander verbinden. Die Inbetriebnahme ist in 2017 vorgesehen, aber niemand glaubt im Ernst daran, dass der Zeitplan auch eingehalten wird.

Was ihr Zugmaterial betrifft, absolvierte die griechische Bahn ihren letzten Modernisierungsschub in den frühen Neunzigerjahren, als die ersten Intercity-Dieselzüge auf der Strecke Athen–Thessaloniki eingesetzt wurden. Fünfeinhalb Stunden für 520 Kilometer – das war eine bis dahin ungeahnte Rekordleistung. Sollten die Renovierungsarbeiten am Schienennetz plangemäss abgeschlossen werden, wird sich die Fahrtzeit 2015 sogar auf dreieinhalb Stunden verkürzen.

Intercity ohne Zwischenhalt

Für Bahnliebhaber dürfte der griechische Intercity ein Unikat darstellen. Es handelt sich nämlich um ein Produkt Ost- und Westdeutscher Ingenieurskunst, hergestellt im Betrieb LEW Hans Beimler in Henningsdorf in den späten Achtzigerjahren mit Unterstützung von AEG, Varta, Siemens und vieler anderer Firmen aus dem Westen. Heute noch ist dieser Intercity die schnellste Zuggattung der griechischen Staatsbahn mit einer Höchstgeschwindigkeit von 160 Kilometer pro Stunde. Einige der Züge tragen die Auszeichnung «Intercity-Express»; nicht weil sie noch schneller sind, sondern weil sie ohne Zwischenhalt von Athen nach Thessaloniki durchfahren.

In den letzten Jahren setzen alle griechischen Regierungen auch auf die Teilprivatisierung der Staatsbahn. Ihr «Köder» ist das Immobilienvermögen der Staatsbahn, dessen Wert auf mindestens zehn Milliarden Euro geschätzt wird. Die Staatsbahn gilt als zweitgrößter Grundbesitzer im Land nach der orthodoxen Kirche. Zudem bieten viele Bahn-Immobilien hohes Wertzuwachspotenzial, denn sie liegen in bester Stadtlage.

Chinesische Staatsfirmen wurden als potenzielle Grossinvestoren gehandelt, nachdem sie sich für rund vier Milliarden US-Dollar einen langjährigen Pachtvertrag für den Hafen von Piräus sicherten. Der Plan könnte so aussehen: Die Chinesen investieren rund 250 Millionen in das Frachtzentrum der Bahn im Athener Vorort Thriassion und bauen dort eine moderne Logistikdrehscheibe für ganz Südosteuropa auf. Chinesische Produkte würde man aus Containerschiffen im Hafen von Piräus umgeschlagen, auf die Bahn verladen und zu allen Absatzmärkten der Region preiswert weitertransportieren können.

Wie so oft in Griechenland scheiterten auch diese Investitionspläne an parteipolitischen Auseinandersetzungen. Kurz vor den Parlamentswahlen 2009 erklärte nämlich der damalige Oppositionsführer Giorgos Papandreou, er würde gegen den Ausverkauf des Landes kämpfen und alle bestehenden Verträge mit den chinesischen Investoren in Piräus neu verhandeln. Zudem warnten die Gewerkschaften der Staatsbahn vor dem Verkauf von Immobilien an griechische oder ausländische Anbieter. Nach dem grandiosen Wahlsieg von Papandreou im Oktober 2009 war seine Forderung nach Neuverhandlungen schnell wieder vergessen und die gute Chance, bei der Bahn mit den Chinesen ins Geschäft zu kommen, war weg.

Seitdem hat der griechischen Staatsbahn auch die Schulden- und Wirtschaftskrise zugesetzt. Vor allem in Nordgriechenland und auf dem Peloponnes wurden unrentable Lokalstrecken stillgelegt. 2011 wurden alle Auslandsverbindungen nach Belgrad, Sofia, Bukarest und Istanbul im Rahmen eines drastischen Sanierungsprogramms eingestellt. Den legendären «Akropolis-Express», mit dem seit 1967 Hunderttausende von griechischen Arbeitern, Studenten und nicht zuletzt Interrailern nach Deutschland kamen, gibt es schon seit den frühen Neunzigerjahren nicht mehr – die Verbindung wurde nach Kriegsbeginn in ex-Jugoslawien ersatzlos gestrichen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 11/11/11

Nächster Artikel