Eine alte Bekannte meldet sich zurück

Košice, die europäische Kulturhauptstadt 2013, ist der flirrende Pol im Osten der Slowakei. Der Basler Schriftsteller Dušan Šimko spricht über seine ehemalige Heimat.

Undated recent aerial view of the St. Elizabeth Cathedral in the town of Kosice, east Slovakia. (KEYSTONE/EPA/EUROPEAN COMMISSION/Ctk) (Bild: keystone)

Košice, die europäische Kulturhauptstadt 2013, ist der flirrende Pol im Osten der Slowakei. Der Basler Schriftsteller Dušan Šimko spricht über seine ehemalige Heimat.

Košice. Wo war das noch gleich? Will man da hin? Und wie spricht man es überhaupt aus? «Koschize», weit im Osten der Slowakei, ist dieses Jahr europäische Kulturhauptstadt und wirbt mit etlichen Programmpunkten slowakischer und internationaler Künstler. Bücher erscheinen und Bilder tauchen auf. Allen voran der gotische Dom, bei dessen Anblick die Kommentatoren leuchtende Augen bekommen. Daneben Gründerzeitfassaden und Repräsentationsbauten. Um die Altstadt herum ziehen sich die Plattenbausiedlungen, in denen auch die bitterarmen Roma wohnen, ohne Aussicht auf Teilnahme am modernen Leben.

Irgendwie Europa und irgendwie unbekannt, dieses Košice. Prag, Bratislava, Budapest: Da kommen wir durch, wenn wir Europa bereisen. Aber der östliche Teil der Slowakei mit der Universitätsstadt, die heute 242 000 Einwohner zählt, liegt nicht auf der Standardroute.
Nicht mehr? Oder noch nicht? Zur Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte Košice, damals unter dem deutschen Namen Kaschau oder ungarisch Kassa, zur Mitte Europas. Nach dem Zweiten Weltkrieg rückte es weit hinter den Eisernen Vorhang. Einerseits ist Košice eine alte Bekannte, in der seinerzeit sogar viel deutsche Sprache zu hören war, andererseits der östliche Ausläufer eines ehemaligen Ostblocklandes. Heute rückt uns Europas Osten wieder näher und wir ihm.

Europa ist ein Gesprächsraum

«Europa ist nicht gleich EU», sagt der slowakische Schriftsteller und Dozent für Geografie Dušan Šimko, der in Košice aufgewachsen ist und beim Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen 1968 nach Basel emigrierte. Er versteht unter Europa nicht nur den gemeinsamen Wirtschaftsraum, für den die EU steht, und auch nicht die Schengenzone, die freien Grenzverkehr zwischen den Mitgliedstaaten ermöglicht. «Können Sie sich zum Beispiel ein Europa ohne Dostojewski und Tolstoi vorstellen? Wohl kaum!» Russland gehört für ihn zu Europa, unabhängig davon, wie es zu den europäischen Abkommen steht. Šimko verbindet mit der europäischen Idee einen Lebensraum, der den freien Ideenaustausch seiner Bewohner zulässt. Europäer sein heisst, an einem Diskurs teilzunehmen, der über die nationalen Grenzen hinweg geführt wird.

Dementsprechend ist eine europäische Stadt ein Ort, deren Bewohner nachbarschaftlich zusammenleben und sich durchmischen, über die verschiedenen Ethnien hinweg. «Das ist in Košice zwischen Slowaken und Ungarn bereits der Fall», sagt Šimko. Es geht hier nicht um Integration, da die ungarische Kultur ein alter Bestandteil von Košice ist. Die Ungarn, heute etwa vier Prozent der Bevölkerung, prägen neben den Slowaken das Gesicht der Stadt. Es gibt sogar noch ein ungarisches Theater und ein ungarisches Gymnasium in Košice.

«Roma sind Europäer. Basta»

In Bezug auf die Roma, die fünf Prozent der Košicer Bevölkerung ausmachen, kann von durchmischter Nachbarschaft allerdings keine Rede sein. Die meisten von ihnen denken nicht einmal an Arbeitssuche, da sie aussichtslos ist. «Dieses Problem kann nicht Košice allein lösen, auch nicht die Slowakei. In Belgien und Frankreich stehen die Roma genauso auf der Strasse und protestieren. Das Problem muss auf europäischer Ebene angegangen werden», sagt Šimko. Immerhin hat Košice ein eigenes Romatheater, das auf Slowakisch und Romani inszeniert. Hier arbeiten junge Roma, die aus den Plattenbauten stammen. «Ein vorbildlicher Weg für die Integration», sagt Šimko über das Theater, das mit slowakischen und EU-Geldern auf den Weg gebracht wurde. Es gibt auch einige Roma, die in der Slowakischen Philharmonie spielen. Doch das sind Ausnahmen. «Und die wenigsten von denen, die den Sprung aus dem Slum geschafft haben, halten den Kontakt zu ihrer armen Verwandtschaft», sagt Šimko. Es brauche eine grundlegende Annäherung «von beiden Seiten aus. Roma sind Europäer. Basta.»

Die Flaniermeile funktioniert

Als Kulturhauptstadt will Košice den Austausch mit Europa, den sie im Blut hat, neu ankurbeln. Im Augenblick hat das noch eine charmante Ironie. Die Autobahn nach Bratislava, an der seit 1975 gebaut wird, ist immer noch nicht fertig. Wer Košice besuchen will, muss von Bratislava, Prag oder Budapest einen «amüsanten, realsozialistischen Zug nehmen», erheitert sich Šimko. «Immerhin ist die Stadt damit ein wenig leichter erreichbar als für Daniel Speer.» Der barocke Dichter reiste im 17. Jahrhundert nach Košice, à pied. Ein Auszug aus seinem «Ungarischen Simplicissimus» eröffnet Šimkos «Reise- und Lesebuch» über Košice, das in diesen Tagen erscheint.

Der Weg in die Kulturhauptstadt: «Ein amüsant sozialistischer Zug.»

So wie noch nicht leicht hinkommen ist, kommt auch noch nicht viel nach draussen. «Ungarische Literatur wird in aller Welt gelesen, slowakische dagegen kaum», bedauert Šimko. Sándor Márai, der 1900 in Košice geboren wurde (in der gleichen Strasse wie später Šimko, worauf er ein wenig stolz ist) und weltweit bekannt wurde, schrieb auf Ungarisch. Eine breite Wahrnehmung der slowakischsprachigen Literatur steht hingegen aus. Warum? «Es fehlt an Übersetzungen», sagt Šimko. Ohne diese könne ein Interesse gar nicht erst entstehen. Neben seinen eigenen Texten liegen nur wenige slowakische Autoren in Übersetzung vor. Dabei glaubt er an das Potenzial der slowakischen Literatur: «Die Slowaken haben eine schnelle Abfolge der politischen Systeme erlebt, ein Staccato der europäischen Geschichte. Die Seitenblicke aus der Slowakei auf das europäische Geschehen wären für ein grosses Publikum von Interesse.»

Und das junge Košice? «Die Flaniermeile funktioniert, an der Kunstakademie sind gute Dozenten und es gibt sogar eine alternative Szene», sagt Šimko. Dafür vermisst der 68-Jährige eine Auseinandersetzung der jungen Literatur mit der slowakischen Vergangenheit. Die neue Autorengeneration, in der übrigens Frauen den Ton angeben, sei in einer «zögerlichen, experimentellen Phase. Die Themen sind die gleichen wie in Deutschland oder Frankreich: Individuelles Erleben, Patchwork-Familie und freie Liebe. Einiges davon ist gut, aber nichts ist bahnbrechend.»

Vergangenheit an allen Ecken

Wer nach Košice fragt, stösst also unweigerlich auf die Vergangenheit der Stadt. Es scheint kein Zufall, dass in diesem Jahr «Eine kleine Stadtgeschichte» erschienen ist (von Tobias Weger und Konrad Gündisch), und dass Šimkos «Reise- und Lesebuch» als Sammlung von Texten aus 330 Jahren angelegt ist. «Die Slowakei ist ein Palimpsest», formuliert es dort der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk, ein wieder- und wiederbeschriebenes Blatt. Die Atmosphäre der Stadt ist durch die verborgenen und offenliegenden Spuren geprägt, in denen die Vergangenheit präsent ist.

Košice war zu verschiedenen Zeiten eine europäische Stadt in Šimkos Sinne. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Ungarisch und Deutsch die vorherrschenden Sprachen, wobei die Zahl der Ungarn seit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 stetig zunahm. Dazu kam die grosse jüdische Gemeinde, bestehend aus den säkular und modern lebenden Neologen und den Jiddisch sprechenden Orthodoxen. Slowakisch war vor allem an Markttagen zu hören, wenn die Bauern aus dem Umland nach Košice kamen.
So wie die Ethnien in Košice aufeinandertrafen, wurden sie auch wieder auseinandergerissen. Die Gemeinde von 15 000 Kaschauer Juden, ein Viertel der damaligen Bevölkerung, wurde 1944 fast vollständig nach Auschwitz deportiert und vergast. Ungarn und Deutsche wurden mit dem erneuten Beitritt zur Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg zu grossen Teilen zurückgedrängt und Košice wurde sukzessive slowakisiert. Das Beieinander von slowakischer, ungarischer, deutscher und jiddischer Sprache sowie von christlicher und jüdischer Religion in seiner damaligen Form ist vergangen.

Das Bürgertum lebt fort

«Kaschau war eine europäische Stadt», heisst der sprechende Titel eines Buches über die Kaschauer Juden, das Michael Okroy 2005 herausgegeben hat – war und ist es nicht mehr?

«Eine ganze Dimension ging verloren», sagt Dušan Šimko über die Zeit der Weltkriege. In der jüdischen Gemeinde war die bürgerliche und liberale, die europäische Kultur von Košice beheimatet. Als Sándor Márai, von dem zwei Texte in Šimkos Buch abgedruckt sind, seine Heimatstadt in den frühen 40er-Jahren besuchte, fand er das Umfeld seiner Jugend nicht wieder. «Das Bürgertum, die Klasse, zu der ich gehöre, verliert seine geschlossene Form», schrieb er damals. Márai, ein ungarischer Patriot, hatte Košice im Jahr 1919 verlassen. Enttäuscht über die Trennung seiner Heimat von Ungarn und über die spätere Zugehörigkeit zur Sowjetunion, ging er nach Kalifornien. 1989 nahm er sich dort das Leben – ein bitterer Zufall, er erlebte den Fall des Eisernen Vorhangs nicht mehr. «Seine Texte sind ein Museum einer untergehenden Kultur», sagt Šimko.
Márais radikaler Auffassung schliesst sich Šimko dennoch nicht an. «Auch wenn ganze Bevölkerungsteile wegfielen und die Sprachenvielfalt in dieser Form verloren ging, existieren die bürgerlich-europäischen Lebensformen fort», sagt er.

«Multinationalität ist unsere Identität. Und unser Potenzial.»

Die Stadt strahlt eine historische Tragik aus, gesellschaftliche Ungleichheiten und genauso das Flirren eines Ortes, der von Begegnung geprägt ist. Heute wie früher leben in Košice Minderheiten nebeneinander und sind Sprachen aus ganz Osteuropa zu hören. «Košice lebt von seiner Multinationalität. Das ist unsere Identität. Und unser Potenzial», sagt Šimko.

Das habe Košice übrigens mit Basel gemeinsam. Und was kann Basel von Košice lernen? «Die Sauberkeit in der Innenstadt!» Mehr Vorbild will Šimko nicht.

Vor Kurzem fand in Berlin die Vernissage von Šimkos «Reise- und Lesebuch» statt. Aber nicht in der slowakischen Botschaft: «Die ist ein klobiger Betonbau», sagt Šimko. Dafür unterscheidet sie sich von der benachbarten türkischen Botschaft, die von Polizisten bewacht wird – vor der slowakischen steht kein einziger. Šimko lächelt schelmisch: «Ist das nicht ein schöner europäischer Wink?»

Dušan Šimko und sein «Reise und Lesebuch»

(Bild: Hansjörg Walter)

Dušan Šimko wurde 1945 in Košice geboren und emigrierte 1968, als der Prager Frühling von den Streitkräften des Warschauer Pakt niedergeschlagen wurde, in die Schweiz. Seit 1982 ist er Basler Bürger, und das sehr gerne, aber im Herzen ist er Kaschauer. «Einmal Košice, immer Košice», sagt er und lacht über seine Formulierung, die er selber etwas plump findet. Šimko ist Schriftsteller, Essayist und Dozent für Geografie an der Uni Basel. In diesen Tagen erscheint im Arco Verlag das von ihm herausgegebene «Košice – Kaschau. Ein Reise- und Lesebuch». Am Stück sind die knapp 30 Reiseberichte, Erinnerungen, Glossen und Fiktionen aus der Zeit von 1683 bis heute nicht geniessbar. Man muss das Buch mit sich führen, hier blättern, dort lesen, «sich amüsieren», wie Šimko selber sagt. Die Qualität der Beiträge reicht von mäs­sig bis hervorragend. Mit der (Lese-)Zeit entsteht ein Eindruck, der neben Wissen ein Gefühl ist, ein Geruch von Košice. Die einzelnen Stimmen sind angenehm vielseitig: Daniel Speer schrieb Ende des 17. Jahrhunderts, die Luft sei in Košice so schlecht, dass dauernd die Pest durchziehe. Der Türke Evliya Çelebi stellt sich die Stadt zur gleichen Zeit hingegen so sauber vor, dass dort unmöglich die Pest aufkommen könne. Allerdings war er nie da. Der Russe Ilja Ehrenburg schrieb, er habe in verschiedenen Ländern Besonderheiten angetroffen – in der Slowakei habe er Menschen gefunden. Immer wieder erklingt das Loblied auf die Kaschauer Altstadt um Markt und Dom, der Österreicher Martin Leidenfrost lässt sie hingegen links liegen und widmet sich den slowakischen Plattenbausiedlungen, wo er seit 2004 sogar wohnt. – Und danach? Man sollte da mal hin.

 

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 12.04.13

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