Eine gemeinsame europäische Armee ist ein notwendiges Übel

Anläufe zu einer europäischen Armee hat es schon mehrfach gegeben. Für die EU ist die Ukraine-Krise ein geeigneter Anlass, einen neuen Versuch zu starten. Jetzt braucht es noch die richtigen Schritte auf dem Weg dahin.

Bulgarian army honour guards carry the European Union flag during an official flag raising ceremony at the Defence Ministry in Sofia January 3, 2007. Bulgaria and Romania joined the E.U., on Monday, taking the bloc to 27 member countries. REUTERS/Stoyan Nenov (BULGARIA) - RTR1KUK5 (Bild: Stoyan Nenov / Reuters)

Anläufe zu einer europäischen Armee hat es schon mehrfach gegeben. Für die EU ist die Ukraine-Krise ein geeigneter Anlass, einen neuen Versuch zu starten. Jetzt braucht es noch die richtigen Schritte auf dem Weg dahin.

Geht es um Fragen der militärischen Landesverteidigung, dann lautet eine gute Antwort, man müsse sie ohne Begeisterung als notwendiges Übel wollen. Worin sie besteht und wie man sie umsetzt (neuerdings auch mit schweizerisch-österreichischen Rekrutenschulen), das sind nochmals andere Fragen.

Es ist nicht falsch zu meinen, dass solche Grundsatzüberlegungen vor allem der «eigenen» Landesverteidigung gelten. In unserem Fall also der Schweiz. Dann gibt es aber noch das Land Europa. Da sollte die gleiche Grundhaltung gelten: eine militärische Landesverteidigung Europas als notwendiges Übel wollen.

Gemeinsames Signal

Denkt man an die europäische Verteidigungsproblematik auch von der Schweiz aus in der Nacht, so wie Heinrich Heine 1844 vom fernen Paris aus an das arme Deutschland in der Nacht gedacht hat, dann sind wir – auch wenn es sich reimt – kaum «um den Schlaf gebracht». Dies obwohl wir mit der Ukraine-Teilbesetzung ein deutliches Signal erhalten haben, das vor allem die Europäische Union wecken muss.

Dass die EU nicht schläft, hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit seiner Erklärung vom 8. März 2015 zu verstehen gegeben. Die Gründung einer gemeinsamen europäischen Armee sei nötig, wenn man glaubwürdig auf eine Friedensbedrohung reagieren wolle. «Eine europäische Armee hat man nicht, um sie sofort einzusetzen», sagte Juncker der «Welt am Sonntag». Aber sie würde Russland den klaren Eindruck vermitteln, «dass wir es ernst meinen mit der Verteidigung der Werte der Europäischen Union». 

Juncker, selbst aus einem noch kleineren Land als der Schweiz, aus einem Land ganz im Westen Europas, der weiss, wie sehr es die gesamteuropäische Gemeinschaft braucht, um das zu tun, was für die einzelnen Mitglieder nötig ist. Den zentraleuropäischen Staaten Polen, Estland, Lettland und Litauen, die sich besonders bedroht fühlen, wollte Juncker mit jener Erklärung zeigen, dass man ihre Sorgen ernst nimmt.

Gescheiterte Anläufe

Eine gemeinsame europäische Armee? Wir fragen uns, warum es diese nicht schon längst gibt. Anläufe gab es schon einige. Ja, das allererste europäische Gemeinschaftsprojekt war militärischer Natur: der Brüsseler Pakt vom März 1948, die Antwort auf die wachsende Bedrohung aus dem damals sowjetischen Osten. 1950, als im Kontext des Korea-Krieges mit dem Ausbruch eines dritten Weltkrieges gerechnet wurde, war man ganz nahe an der Schaffung einer gemeinsamen Armee. Mit konkreten Ideen für einen gemeinsamen Verteidigungsminister und Generalstabschef, mit Zusammenlegung von Materialbeschaffung und Ausbildung und anderem mehr. Wie die akute Gefahr wieder vorbei war, war vor allem Frankreich für diese Zusammenlegung aber nicht mehr zu haben.



Im Irakkrieg von 2003 nahmen Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg (mit Juncker) im sogenannten Pralinengipfel einen weiteren Anlauf. Damals ging es hauptsächlich darum, eine von den USA unabhängige Position aufzubauen. Es war ein kleines Gemeinschaftsprojekt, das eine doppelte Spaltung in Kauf nahm: die transatlantische und die innereuropäische sowie die Spaltung zwischen Staaten, die je nach gerade amtierender Regierung gegen oder für die Irakintervention waren.

Das ist das Grundproblem einer Vergemeinschaftung der europäischen Verteidigung: In welchem Verhältnis soll sie zu der von den USA angeführten Nato stehen? Die Amerikaner wünschten sich zu Recht höhere Investitionen in die militärische Verteidigung der Europäer. Diese sollten aber im Rahmen des atlantischen Bündnisses stattfinden und nicht zu einer eigenen Struktur führen. «No duplication», heisst ihre Losung.

Zur politischen Einigkeit gezwungen

(West-)Europa lebt zwar seit über einem halben Jahrhundert unter dem militärischen Schutz der USA. Auf europäischer Ebene gibt es im Verteidigungsbereich neben Wortblasen durchaus auch kleine Kooperationen. So wurde die Deutsch-Französische Brigade bereits 1989 aufgestellt. 1993 wurde das Eurokorps geschaffen, dem nach Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg und Spanien bald auch Polen angehören wird und mit dem andere, zum Beispiel das neutrale Österreich, locker verbunden sind. Und im Rahmen der Nato werden, unter anderem gestützt auf die genannten Elemente, seit 2002 schnelle Eingreiftruppen aufgebaut.

Die Lösung wird wohl in der Schaffung von Strukturen liegen, die flexibel einsetzbar, «interchangeable» und «interoperationabel» sind – vielleicht sogar nicht unähnlich den verschiedenen eidgenössischen «Fähnlein», die vor Jahrhunderten nach Nancy, Pavia oder Marignano gezogen waren. Standardisierte und über gemeinsame elektronische Leitsysteme verbundene Militäreinheiten, die je nach Bedarf national, europäisch und transatlantisch zur Verfügung stehen. Oder zum Schutz bedrohter Völker in Afrika. Es ist davon auszugehen, dass selbst die schweizerische Planung in diese Richtung geht. Die auch von der Schweiz betriebene Nato-orientierte Partnerschaft für den Frieden (PfP) deutet darauf hin.

Es ist klar, dass eine gemeinsame Militärstruktur eine gemeinsame Sicherheitspolitik voraussetzt. Ebenso klar ist, dass die Glaubwürdigkeit und Durchsetzbarkeit einer solchen Sicherheits- und allgemeineren Aussenpolitik von den verfügbaren militärischen Möglichkeiten abhängen. Es mag tragisch erscheinen, dass Friedenspolitik auch von der letzten Möglichkeit abhängt, Krieg zu führen. Im Französischen gibt es einen Ausdruck dafür, dass die Verbindlichkeit von Politikbeschlüssen und Gerichtsentscheiden von der Möglichkeit abhängt, sie auch mit polizeilicher Gewalt durchzusetzen: «pas de juges sans gendarmes». Diese Wechselseitigkeit der Voraussetzungen hat in der Problematik um die europäische Verteidigung auch ihr Gutes. Die Notwendigkeit, die Mittel zusammenzulegen, zwingt dazu, sich auch in der Politik zu einigen.

Entwicklung nach altbekanntem Schema

Die deutsche Linke sagt von Junckers Vorschlag, er sei eindeutig gegen Russland gerichtet. Das ist richtig und falsch. Falsch insofern, als es ja nicht darum geht, Russland anzugreifen. In der aktuellen Situation, in der Russland verlorene Gebiete heimholen will, geht es vor allem darum, den potenziellen Aggressor von einer Politik der vollendeten Tatsachen abzuhalten. Wegen der zurzeit noch schwachen Möglichkeiten einer «reaction force» hielt Juncker es für nötig, zu warnen: «Europa hat enorm an Ansehen verloren, auch aussenpolitisch scheint man uns nicht ganz ernst zu nehmen.»

Juncker hat die Gunst der Stunde genutzt, um auf eine alte Notwendigkeit hinzuweisen. Es darf aber nicht bei öffentlichen Erklärungen bleiben. Entscheidend ist, was auf dem noch langen Weg zur gemeinsamen europäischen Landesverteidigung an konkreten Bemühungen unternommen wird. Juncker wird daran gemessen werden.

Einmal mehr könnte der alte Mechanismus spielen, dass sich Europa nur in der Krise bewegt – und sich in einer objektiv notwendigen Richtung weiterentwickelt. Jean Monnet, der wichtigste Europa-Architekt der Frühzeit, fasste diese Erfahrung in seinen Memoiren schon zusammen: «L’Europe se fera dans les crises et elle sera la somme des solutions apportées à ces crises.» Die Summe der auf die den Krisen entgegengebrachten Lösungen: Das dürfte für den Euro gelten, für die sich derzeit verschärfenden Flüchtlingsdramen im Mittelmeer und eben die Frage der militärischen Verteidigung.

Statt 28 nationale Kleinarmeen in separaten Zuständigkeitssphären zu unterhalten, sollten diese zu einem engen Verbund mit gemeinsamen Einsatzorganen verknüpft werden. Würde die EU ihre Verteidigungsetats zusammenlegen, käme sie immerhin etwa auf die Hälfte der amerikanischen Verteidigungsausgaben. In Klammern: Und wenn man die rund fünf Milliarden Franken der Schweiz dazulegen würde, wären es noch ein wenig mehr.

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