«Europe, She Loves»: Eine Odyssee durch Europas Lotterbetten

Katzenfutter, Arbeitsamt und Sex: Ein Dokfilm von Jan Gassmann untersucht, was von der europäischen Idee im Alltag junger Menschen übrig bleibt. Kameramann Ramòn Giger erzählt von den Dreharbeiten.

(Bild: Nils Fisch)

Penny ist sauer. Niko, ihr Freund, hat heimlich die Katze gefüttert. Mit Futter, das er aus dem Laden gestohlen hat, weil sie es sich nicht leisten können. Niko soll das Tier nicht verhätscheln, raunzt die junge Frau: Die Katze gewöhne sich sonst an einen Standard, den das griechische Paar nicht halten könne.

So beiläufig und träf bringt der Schweizer Dokumentarfilm «Europe, She Loves» die Austerität auf den Punkt, die eine ganze Generation junger Menschen am ausgestreckten Arm verhungern lässt. Jan Gassmann («Chrigu») hat sich auf den Weg gemacht, um die vergessenen Kinder Europas abseits der Brüsseler Bürokratie zu porträtieren.

Im VW-Bus hat der Zürcher Regisseur mit seiner Crew vier junge Paare in Irland, Estland, Spanien und Griechenland besucht. Zwischen Jobsuche, Drogenrausch und Billiglohnarbeit bilden diese Paare trotzige Lebensgemeinschaften, die miteinander reden, streiten, träumen – und schlafen. Der Wahlbasler Kameramann Ramòn Giger, von dem die beunruhigend schönen Bilder stammen, berichtet.    

Ramòn Giger, sie haben als Kameramann den Alltag von vier Pärchen gefilmt. Warum zeigen Sie auch den Sex?

Das war eine ganz klare Absicht der Regie: Dieser Film handelt von Liebesbeziehungen, und die Sexualität ist ein wesentlicher Bestandteil davon. Beim Thema Liebe und Beziehungen wollte Jan Gassmann die Intimitätsgrenze brechen und aufs Ganze gehen. Der Sex setzt den Level dessen, was man von sich zu zeigen bereit ist, so weit hinauf, dass Raum für viel mehr Offenheit und Intimität entsteht.

Wie war das für Sie hinter der Kamera?

Wir haben versucht, in allen Momenten eine Situation zu schaffen, die sich natürlich und entspannt anfühlt. Wir sind den Protagonisten wie Schatten gefolgt: Wir waren jeweils auf den Beinen, bevor sie aufstanden, und sind erst nach ihnen zu Bett gegangen. Viel intensiver als das Filmen von Sex waren für mich jedoch die Momente mit dem heroinabhängigen Pärchen in Dublin. Davon ein Teil zu sein, war teils sehr schwierig.

Mussten Sie der Wirklichkeit manchmal auch nachhelfen?

Meine Erfahrung als Dokumentarfilmer hat mich gelehrt, dass ein Teil immer inszeniert ist. Auch wer rein beobachtend dreht, rekonstruiert und formt das Material im Nachhinein zu einer Geschichte. Speziell an «Europe, She Loves» ist aber, dass der Film nicht inszeniert, sondern initiiert. Jan Gassmann hat aufgrund der Castinggespräche mit den Protagonisten eine Art Drehplan entwickelt: Wenn wir zum Beispiel zeigen wollten, dass jemand arbeitslos ist, gingen wir mit auf Jobsuche, um das zu visualisieren. Das meiste entstand im Dialog mit den Paaren, aber es gab auch Regie-Inputs, wenn sich ein potenzielles Konfliktthema abzeichnete. Da brauchte es manchmal einen Anstoss, weil es ja auch Mut erfordert, über gewisse Dinge zu reden.

Wie haben Sie Protagonisten gefunden, die zu so viel Öffentlichkeit bereit sind?

Wir haben unsere persönlichen Kontakte in den betreffenden Städten gefragt, also Leute, die wiederum Leute kennen. Zusätzlich haben wir auch Ausschreibungen über Hilfswerke gemacht, weil der Film von Menschen handeln sollte, die am Existenzminimum leben und die von den Auswirkungen der gegenwärtigen Krise direkt betroffen sind. In Thessaloniki war ich bei den Castings mit dabei und habe 10 bis 15 Tassen Kaffee pro Tag getrunken, um Dutzende von Paaren, deren Beziehungen, Lebensläufe und Konflikte kennenzulernen.

Und warum mussten es ausgerechnet Paare in prekären Verhältnissen sein?

Weil der Film Europa nicht über Institutionen verstehen will, sondern über die Menschen. Und weil es darum ging, die Auswirkungen grosser politischer Entscheide auf das Kleinste zu zeigen. Die Griechenlandkrise war zum Zeitpunkt des Drehens ein wichtiges Thema, auch die Flüchtlingsdebatte war schon am Laufen, wenn auch nicht im heutigen Ausmass. Aber letztlich soll der Film das eigene Spiegelbild zurückwerfen und zur Frage anregen, inwiefern wir selber Europäer und Bestandteil dieser Kultur sind.




«Wir sind die 25’000 Kilometer lange Route zuerst auf Google Maps abgefahren.» (Bild: Nils Fisch)

Wie haben Sie die Reise geplant?

Wir haben Paris, Berlin, Rom und Athen bewusst gemieden, weil der Film die Ränder des Kontinents definieren sollte: Wo fängt er an, wo hört er auf. Gleichzeitig bestand der Anspruch, eine Grossstadt zu finden, auch wenn sie nicht zu den klassischen Metropolen gehört. Wir sind die 25’000 Kilometer lange Route zuerst auf Google Maps abgefahren, leider haben wir uns beim zeitlichen Aufwand aber verschätzt: Zuletzt waren es 70 Tage am Stück, die wir unterwegs waren – eine ziemliche Odysee.

Statt eines Kommentars gibt es im Film nur ein mediales Hintergrundrauschen, dafür sind die Landschaftsaufnahmen umso aussagekräftiger. War die Ästhetik wichtiger als ein politisches Statement? 

Ein anderer Regisseur hätte aus diesem Material einen anderen Film gemacht, das stimmt. Aber ich finde, dass ein Dokumentarfilm eine Form und eine Ästhetik braucht, weil er diese sowieso erhält. Deshalb ist es mir lieber, man entscheidet sich bewusst für eine bestimmte Form der Umsetzung, die im besten Fall auch mit dem Inhalt korrespondiert. Man könnte ja auch sagen, dass der Film gerade dadurch politisch ist, dass er das Private zeigt.

Welcher Moment während der Arbeit an diesem Projekt hat Sie persönlich am meisten bewegt?

Während der Dreharbeiten war eigentlich jeder Moment intensiv und emotional bewegend, da man ja versucht teilzuhaben und mitzufühlen und doch immer hinter der Kamera gefangen bleibt. Um so aufregender war die Premiere an der Berlinale, als alle Protagonisten kamen. Da sass ich zwei Sitze neben der herrlichen Siobhan aus Dublin, und das war wahnsinnig rührend. Obwohl sie im Film sehr viel von sich preisgibt, ist sie eigentlich sehr zurückhaltend und wollte ihren vollen Namen nicht im Abspann haben. Doch dann stand sie da vor tausend Menschen und sagte, dass der Film so für sie stimme, da er über das Gezeigte hinausgehe. Das ist das grösste Geschenk für einen Dokumentarfilmer: wenn etwas von der Energie nicht nur auf das Publikum, sondern auch auf die Protagonisten übergeht. So nah bei Menschen sein zu können, das ist beglückend. Man weiss dann, dass man am richtigen Ort ist.

Nachdem Sie Europa den Puls gefühlt haben: Was glauben Sie, wie geht es jetzt weiter?

(Überlegt) Wenn der Film einen Wert hat, dann stellt er ebendiese Frage. Ich fände es schön, wenn die Leute, die sich «Europe, She Loves» ansehen, selber eine Antwort darauf suchen. Wir sind alle Einzelteile dieser Summe, die Europa ausmacht.

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