Eine Stadt nimmt Abschied

Kein anderer Ort in Irland wird gerade so erschüttert wie Limerick. Die Jungen wandern aus – oder zünden Häuser an.

Nicola O'Donoghue lebt mit ihrer fünfjährigen Tocher im St. Mary's Park.

Kein anderer Ort in Irland wird gerade so erschüttert wie Limerick. Die Jungen wandern aus – oder zünden Häuser an.

Drei Jahre irisches Wetter reichen, um einen neu geteerten Parkplatz mit Moos zu überziehen, wenn er nicht mehr gebraucht wird. Vorbei sind die Zeiten, als das Areal mit 900 Plätzen derart vollgestopft war, dass es im Business Park von Limerick regelmäs­sig zu Staus kam. Heute nichts als Stille. Überall sind weisse Wegweiser mit einer blauen Aufschrift zu sehen. Die Schilder führen aber nirgendwohin. Sie erinnern nur noch an die glorreichen Jahre.

Anfang 2009 hat der amerikanische Computer-Hersteller Dell beschlossen, sein Werk in der viertgrössten Stadt Irlands zu schliessen und die Produktion nach Polen zu verlagern. 1900 Personen hat der grösste Arbeitgeber der Region auf die Strasse gestellt. Für Irland, das Ende 2010 von der EU eine Finanzspritze in der Höhe von 85 Milliarden Euro erhalten hat, war dies ein harter Schlag. Inbesondere für Limerick mit seinen 57 000 Einwohnern. Während die durchschnittliche Arbeitslosenquote Irlands 14,9 Prozent beträgt, ist sie in der Stadt im Westen des Landes praktisch doppelt so hoch (28,6 Prozent). Sieben der zehn Hotspots in Irland mit der höchsten Arbeitslosendichte befinden sich in Limerick.

Beim Immobilienmakler standen sie Schlange

Dabei hatte die Lage bis vor Kurzem so rosig ausgesehen. Limerick galt nicht zuletzt wegen Dell seit den 1990er-Jahren als Vorzeigeort des Europäischen Wirtschaftswunders Irland. Damals, als das Land zu den reichsten Ländern Europas zählte, die Wirtschaft jährlich um über zehn Prozent wuchs und Irland deshalb den Namen «Keltischer Tiger» erhielt.

Damals, als die Gehälter in die Höhe schossen, die Baubranche boomte, die Immobilienpreise stiegen und jeder, der wollte, irgendeinen Job ergattern konnte. Damals standen die Menschen beim Immobilienmakler Rooney Schlange, und man schenkte ihnen Kaffee aus. Der märchenhafte Aufstieg der Iren ist abrupt zu Ende gegangen. Nach 25 Jahren konstantem Wachstum sind sie hart auf dem Boden der Realität gelandet.

Hunderte vor dem Sozialamt

Heute wartet bei Rooney niemand mehr. Schilder mit der Aufschrift «zu vermieten» oder «zu verkaufen» sind in der Innenstadt Limericks öfters anzutreffen als Menschen. Praktisch jedes dritte Haus steht leer. Dafür herrscht an einem Ort Hochbetrieb: dem Arbeitslosenamt. Die Schlange reicht an diesem Mittwochmorgen, obwohl es zügig vorwärts geht, permanent um das markante Backsteingebäude. Mal kürzer, mal länger. Eine Frau im beigen Anorak läuft mit ihrem kleinen Sohn vorbei, fragt ihn rhetorisch: «Ist das nicht ein verrückter Ort?»

Vor dem Arbeitslosenamt wird ersichtlich, wie heftig die Krise Limerick erschüttert hat. Bis zu 1000 Personen jeglichen Alters und jeglicher Gesellschaftsschicht stehen an diesem reg­nerischen Tag an. Darunter der 22-­jäh­rige Niall Mc Grath in seinem rot-schwarzen Trainer. Überhaupt scheinen die männlichen Jugendlichen in Limerick nur noch im Trainer aus dem Haus zu gehen.
Vor drei Monaten hat Mc Grath sein Jus-Studium beendet. Nach einer Stelle in diesem Bereich sucht er schon gar nicht. «Ich würde absolut jeden Job machen. Aber es ist aussichtslos.» 60 Euro Arbeitslosengeld erhält er pro Woche. Genug, um zu überleben. An eine Zukunft in Irland glaubt er nicht. Dass es bald besser werden könnte, schon gar nicht. Nächstes Jahr wird er nach Dubai auswandern und dort Englisch unterrichten. «Was soll ich denn sonst machen? Ich kann hier nur den ganzen Tag herumhängen.»

Keine Perspektive in Limerick sieht auch die 24-jährige Nicole Kiely, die vor sechs Monaten ihr Studium in der Web-Entwicklung abgeschlossen hat. Hunderte Bewerbungen hat sie seither geschrieben. Immer mit einer negativen Antwort – falls es überhaupt eine gegeben hatte. Sie wird in den nächsten Wochen in die irische Hauptstadt ziehen und dort irgendeinen Job suchen.
«In Limerick ist es unmöglich für mich, eine Stelle zu finden. Ich gehe davon aus, dass es in Dublin einfacher ist. Und ein bisschen einfacher reicht mir schon.» Es sei der Horror, das College zu verlassen und keine Aussichten zu haben, sagt Kiely. «Ich bin frustriert. Doch es bleibt mir nichts anderes übrig, als die Situation zu akzeptieren. Könnte ich etwas ändern, würde ich es ja tun. Es gibt aber keinen Weg aus dieser Misere.»

Die Erstech-Stadt

Die Jugendarbeitslosigkeit ist für Limerick zu einem heftigen Problem geworden. Mit der Rezession hat auch die Gewalt zugenommen. Seit Jahren etwa tragen im Viertel Moyross zwei Drogenbanden einen Krieg aus, der bereits etliche Menschenleben gefordert hat. Limerick wird deshalb auch «Stab City» genannt – Erstech-Stadt. Mittlerweile sind die Rivalitäten auf der Strasse etwas zurückgegangen – zumindest in Moyross. In den Vierteln O’Malley Park und St. Mary’s Park, wo gemäss den neusten Zahlen des Statistischen Amtes Irlands die Arbeitslosenquote über 55 Prozent beträgt, soll es immer noch wie in einem Actionfilm zu- und hergehen.

In der Nähe des Arthur’s Quay fragen wir den 23-jährigen Christopher Kennedy mit dem grauen Kapuzenpulli und der kräftigen Statur nach dem Weg in diese beiden Gebiete. Ein bisschen verwundert schaut er uns an, erklärt die Route und sagt: «Da solltet ihr nicht hingehen. Es ist sehr gefährlich. Es gibt viele Drogensüchtige und Überfälle dort.» Kennedy hat genügend Zeit an diesem Vormittag und will uns in den O’Malley Park begleiten.

Seit Januar ist der ausgebildete Elektriker und Mechaniker arbeitslos. 97 Bewerbungen hat der Vater zweier Töchter seither abgeschickt. «Es ist sehr hart momentan in Irland. Aber das ist jetzt halt nun mal so», sagt er. Verantwortlich für die Krise macht er niemanden. «Solange ich Essen auf dem Tisch habe, nehme ich die Politik nicht wahr. Dann ist mir alles egal.» 280 Euro stellt der Staat ihm monatlich zur Verfügung, um seine Familie zu ernähren. Dazu kommen seine Ersparnisse aus den guten, alten Zeiten, als er noch einen Job hatte. Damals verdiente er bis zu 10 000 Euro im Monat.

Wir haben inzwischen den O’Malley Park im Süden der Stadt erreicht. Kennedy kennt sich hier bestens aus: Seine Freundin wuchs in diesem Viertel auf. Er zeigt auf ein Haus: «Hier hat man vor zwei Jahren zwei Bekannte von mir erschossen – es ging um Drogen.» Er erzählt dies ohne grosse Emotionen. Aus seinem Umfeld wurden schliesslich bereits 25 Personen ermordet.

Idyllisch sieht das Wohngebiet auf den ersten Blick aus. Überall Grün, wo das Auge hinreicht. Mittendrin kleine Einfamilienhäuser. Eine typische Familiensiedlung eigentlich. Doch der Schein trügt. Viele der Häuser sind unbewohnt, verfallen oder wurden von den Jugendlichen aus Langeweile abgefackelt. Dass Häuser und Autos aus Spass angezündet werden, gehört in diese Gegend wie Ermordungen, Drogen, Einbrüche und Raubüberfälle. «Das ist Limerick. Ich habe im Teeniealter auch Autos angezündet», sagt Kennedy und zuckt mit den Schultern.

Eine Zukunft in Sierra Leone

Der O’Malley Park wurde Ende der 1960er-Jahre aus dem Boden gestampft. Schon damals lebten viele Arbeitslose und Schulabbrecher dort, seit mehreren Jahrzehnten gilt er als Problemzone Limericks. Die Stadt versucht nun, die Siedlung aufzuwerten, indem sie die Bauten renoviert oder abreisst. Dafür hat sie etliche Häuser von den ursprünglichen Eigentümern erworben – zu einem höheren Preis, als sie eigentlich wert wären.

Von den ursprünglich 600 Häusern im O’Malley Park stehen heute noch etwa 300. Alles soll übersichtlicher werden auf dem Hügel. Und vor allem sicherer. Die Verwaltung will aber auch mit kleineren Massnahmen ein bisschen Ordnung in das Quartier bringen – etwa, indem sie regelmässig den Rasen mähen lässt.

Collin wird erwachsen sein, wenn im O’Mally Park normale Zustände herrschen, falls dies überhaupt jemals eintreffen wird. Der 9-Jährige sitzt im strömenden Regen auf dem Rasen und schaut einem Bagger zu, der ein abgefackeltes Haus in kleine Stücke zerlegt. Der Junge will fotografiert werden. Er hat auch genaue Vorstellungen, wie dies geschehen soll: Als Erstes zeigt er uns seinen Mittelfinger. Eine Pose, die hierher passt. Es sei schlecht, auf diesem Hügel leben zu müssen. «Ich will hier weg», meint er mit einem traurigem Blick.

Christopher Kennedy erzählt uns beim Mittagessen, dass er die «Lösung für all seine Probleme» gefunden habe. Bald wird er nach Sierra Leone fliegen und dort für eine englische Firma als Lastwagenmechaniker arbeiten – in einer Diamantenmine. Allerdings nur auf zwei Jahre beschränkt, zwei harte Jahre. Zwölf Stunden am Tag muss er in Westafrika arbeiten. Sieben Tage die Woche und sechs Wochen am Stück. Anschliessend kann er für drei Wochen nach Irland zurückfliegen, ehe das Prozedere in Sierra Leone wieder von vorne beginnt.

Dass er von seinen Kindern getrennt sein wird, versucht er mit Fassung zu tragen: «Ich kann zum Glück alle sechs Wochen zurückkommen. Und ich verdiene 2100 Sterling die Woche.» Umgerechnet sind dies rund 3200 Franken – also 12 800 Franken im Monat. Mit diesem Lohn rückt sein Traum näher, eines Tages ein Haus zu kaufen. Christopher muss nun gehen. «Ruft nur an, wenn ich euch morgen herumführen soll», sagt er und verlässt uns.

Die bösen Polen

Wir fahren in ein anderes Viertel, das einen schlechten Ruf hat und von den Einwohnern Limericks gemieden wird: St. Mary’s Park im Norden der Stadt – am Fluss Shannon gelegen. Auch hier sind die Folgen der Wirtschaftskrise deutlich sichtbar. Jedes dritte Haus ist mit Brettern vernagelt. Junge Väter und Mütter stehen im Trainer vor den Hauseingängen, nicht wenige von ihnen sind übergewichtig. Jede zweite Person ist arbeitslos. Kinder ballern mit Plastikpistolen auf der Strasse herum.

In den Vorgärten liegen Chips­packungen, Cola-Büchsen, Plastiktüten. Trotzdem wirkt die Siedlung viel freundlicher, familiärer und sicherer als der O’Malley Park. In diesem Viertel scheint man zueinander zu schauen. Verliebt mit seiner Freundin vor dem Hauseingang sitzend treffen wir den 22-jährigen Eoin O’Sheen an. Vor zwei Monaten hat er sein Sportstudium beendet und spielt nun ernsthaft mit dem Gedanken, nach Australien auszuwandern. «Ich mache mir grosse Sorgen um meine Zukunft.» Wut verspürt er insbesondere auf die vielen Polen in Limerick. Es sei unfair, dass diese Jobs finden würden, aber die Iren nicht, sagt er.

Gar nicht gut zu sprechen auf die polnische Bevölkerung ist ebenso Donna O’Donnel (21), die wir ein paar Häuserzeilen weiter kennenlernen. Seit zwei Jahren sucht sie eine Stelle. «Die Polen bekommen hier einfach jeden Job, weil sie günstiger sind. Das ist ungerecht.» Und ihre 29-jährige Schwester mit den wasserstoffblond gefärbten Haaren, Nicola O’Donoghue, ergänzt: «Solange die hier sind, besteht für uns keine Hoffnung auf einen Job. Es ist frustrierend. Ich kann meiner fünfjährigen Tochter in Limerick nichts bieten.» Zu viel hätten die Polen den Iren weggenommen, sagt sie. Immerhin habe sich die Lage in ihrem Wohngebiet etwas beruhigt. «Häuser und Autos wurden hier schon lange nicht mehr angezündet. Das Viertel ist viel besser als sein Ruf. Wir werden aber leider immer nur dann wahrgenommen, wenn es kriminell wird.»

Wir machen uns beim Eindunklen wieder in den O’Malley Park auf. Das Viertel wirkt jetzt erst recht unheimlich. Die Strassen sind leer. Kaum oben auf dem Hügel angekommen, werden wir von einem grauen Toyota verfolgt. Ein etwa 30-jähriger Mann in Trainerhosen und glasigen Augen will wissen, was wir hier zu suchen haben. «Es ist gefährlich. Das könnte schlimm enden», sagt er mehr drohend als hilfsbereit. Gegen Geld bietet er uns an, Infos zu liefern. «Dann erzähle ich eine Geschichte, die euch zu Millionären machen wird.» Wir winken ab, starten den Motor und fahren weg. Und Christopher Kennedys Satz will uns nicht aus dem Kopf gehen. «That’s Limerick.»

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 13.07.12

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