Eine Überdosis Demokratie

Das Referendumsrecht ist im Bereich Aussenpolitik mehrfach ausgebaut worden – immer mit handfesten Interessen. Auch der jüngste Anlauf rechtskonservativer Kreise will nicht die Demokratie stärken, sondern die Integration der Schweiz in Europa bremsen.

Der schweizerische Staatssekretär Franz Blankart reiste im April 1992 nach Brüssel, um den EWR-Vorvertrag zu unterschreiben – das Stimmvolk verwarf das Abkommen ein paar Monate späteran der Urne. (Bild: Keystone/Edi Engeler)

Das Referendumsrecht ist im Bereich Aussenpolitik mehrfach ausgebaut worden – immer mit handfesten Interessen. Auch der jüngste Anlauf rechtskonservativer Kreise will nicht die Demokratie stärken, sondern die Integration der Schweiz in Europa bremsen.

Die Ausdehnung der Volksrechte auf die Aussenpolitik bedeute eine Gefährdung der internationalen Stellung der Schweiz. Das hielt der Bundesrat am Vorabend des Ersten Weltkiegs fest. Seine Einschätzung richtete sich gegen eine vor allem in der französischen Schweiz unterstützte Volksini­tiative.

Die Initianten waren mit einem 1909 vom Bundesrat abgeschlossenen und vom Parlament genehmigten Eisen­bahnver­trag mit Deutschland unzufrieden – und forderten deshalb eine gene­relle Referendumsmöglichkeit auch für Staatsverträge. Denn der Schweizerische Bundesstaat von 1848 war noch ohne jegliches Referendumsrecht zur Welt gekommen. Und die erst 1874 eingeführte Möglichkeit, Par­laments­beschlüsse mit Unterschriftensammlungen infrage zu stellen, klammerte die Aussenpolitik explizit aus. Selbst das Par­lament musste dafür kämpfen, in diesem vom Bundesrat als seine Domäne reservierten Politikbereich ein Wörtchen mitreden zu dürfen.

Das änderte sich nach dem Ersten Weltkrieg. Der weltweite Slogan der «Demokratisierung der Politik» und des Selbstbestimmungsrechts der Völker leistete dabei indirekte Unterstützung. 1919 räumte der Bundesrat, der 1914 noch ganz anders gedacht hatte, dann sogar ein, dass die Unterstellung von Staatsverträgen unter das Referen­dums­­recht der «folgerichtige Ausbau des demokratischen Staatsrechts» sei. 1921 bestätigte dies eine Volksmehrheit von über 70 Prozent und 20 der 22 Ständestimmen. Es wäre sonderbar gewesen, wenn das Volk es abgelehnt hätte, sich mehr Rechte geben zu lassen.

Wird sich am 17. Juni 2012 eine Volksmehrheit selber noch mehr Demokratie in der Aussenpolitik geben und der Initiative «Staatsverträge vors Volk» zustimmen – in der Meinung, dass es mit drei bis acht ­automatisch anfallenden zusätzlichen Abstimmungen pro Jahr des Guten nie zu viel geben könne?

Ein weiterer Zuwachs an Mitsprache liesse sich grundsätzlich rechtfertigen. Denn Vereinbarungen mit anderen Staaten häufen sich, weil das inter­na­tionale Leben dichter wird und Ab­kommen mit der Aussenwelt auf die Innenwelt direktere Auswirkungen haben.

Aussenpolitik funktioniert anders

Es gibt aber bedenkenswerte Vorbehalte, gemäss denen Aussenpolitik nicht nach gleichen Grundgegebenheiten funk­tioniert wie Innenpolitik: Mitbestimmung in der Innenpolitik ist problemlos, weil man aus direkter Anschauung urteilen und ein Votum in einer erneuten Abstimmung meist problemlos korrigieren kann. Die eigene Urteilskraft über Vereinbarungen mit dem Ausland dagegen ist wesentlich schwächer. Zudem werden Abstimmungsvorlagen mit externen Partnern aus­ge­han­delt, die nicht ohne Weiteres zu Nachverhandlungen bereit sein werden.

Die Einführung des Staatsvertragsreferendums von 1921 war nur der erste Schritt. Ein Ja zur Staatsvertrags-Ini­tiative der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns) aber wäre bereits der vierte «Ausbau der Demokratie» im Bereich der Aus­senpolitik. Er würde nicht nur einen Rückstand ­gegenüber innenpolitischer Bestimmung ausgleichen, son­dern sie mit ­seiner Klausel, wonach ab Folgekosten von mehr als 100 Millionen Franken jährlich zwingend über neue Abkommen abgestimmt werden müsste, deutlich übersteigen.

Im Vergleich dazu waren die Ausbauschritte nach 1921 nötig und sinnvoll. Die Situation war unbefriedigend, weil die Regelung das fakultative Referendum nur für unkündbare Verträge und für Verpflichtungen mit einer Dauer von mindestens 15 Jahren vorsah. Dies hatte zur Folge, dass ­wichtige Verträge wie der Beitritt zum Europarat (1962/63), das Italiener-­Ab­kommen (1964), der Beitritt zur Euro­päischen Menschenrechtskonvention (1974) und zum Atomkontrollabkommen (1969/74) der Referendumsmöglichkeit entzogen waren, weil diese Kündigungsklauseln hatten; umgekehrt hätten gegen unbedeutende, aber auf ewig abge­schlossene Verträge wie jenem zu einer Grenzkorrektur in den Alpen Unterschriften gesammelt werden können.

Dieser Mangel wurde in den 1970er-Jahren unter dem Druck der rechtsnationalen Opposition behoben. Dabei ging es aber nicht um den abstrakten Wunsch nach mehr Demokratie. Der Ruf danach hatte einen konkreten Grund: Die mit dem Italiener-Abkommen von 1964 unzufriedene Anti-Überfremdungsbewegung lancierte 1973 eine Initiative, mit der alle bisher abgeschlossenen Staatsverträge rückwirkend dem fakultativen Referendum hätten unterstellt werden sollen. Bundesrat und Parlamentsmehrheit bekämpften dieses übertriebene Ansinnen mit einem Gegenvorschlag, der 1977 ein Volksmehr von 61 Prozent und ein Ständemehr von 20,5 erhielt.

Referendumsrecht kaum genutzt

Von nun an waren Beitritte zu Organisationen kollektiver Sicherheit und zu supranationalen Organisationen dem obligatorischen Referendum unterstellt und die unbefristeten und unkündbaren Abkommen wie bisher dem fakultativen Referendum. Von den 62 potenziellen Fällen der Jahre 1977 bis 1994 musste indes nur eine einzige Vorlage wegen einer Referendums­opposition vorgelegt werden, und diese wurde, die Weltbankzugehörigkeit betreffend, im Mai 1992 mit gegen 56 Prozent doch im Sinne von Bundesrat und Parlamentsmehrheit entschieden. Das war auch später nicht anders: In den letzten zehn Jahren sind von 145 Abstimmungsmöglichkeiten nur gerade vier genutzt worden.

Nach 1977 kam es wiederum in ganz bestimmten Konstellationen zu weiteren Ausbauschritten. Hier sei nur derjenige in Erinnerung gerufen, der durch die Erfahrungen mit den EWR-Verhandlungen gemacht wurde. Zum Ausbau kam es in diesem Fall nicht auf der Ebene der basisdemokratischen, sondern der repräsentativdemokratischen Ebene – das heisst der Eidgenössischen Räte sowie der Kantonsregierungen.Hier wollte man den Einfluss auf die mit dem Ausland verhandelnde Bundesexekutive ausbauen und sogar an den Verhandlungen direkt teilnehmen.

Dass man dem Parlament, das später das Resultat zu genehmigen hatte, ein Recht einräumte, auf das Verhandlungsmandat Einfluss zu nehmen, machte Sinn und ­bildete den zweiten Reformschritt in unserer Reihe. Hingegen beharrte der Bundesrat zu Recht darauf, dass das eigentliche Verhandeln mit dem Ausland alleine in den Zuständigkeitsbereich der Exekutive gehöre.

Integration soll gebremst werden

Auch der Auns geht es nicht um die Demokratie an sich. Ihr geht es darum, die weitere Integration der Schweiz in die europäische und globale Welt zu verhindern. Dabei nimmt sie es mit ihrem Pauschalvorschlag in Kauf, dass über «Unnötiges» abgestimmt und die Demokratie entwertet wird. Indem die Initiative ein obligatorisches Referendum mit Ständemehr für die Genehmigung aller «wichtigen» und multilateralen Staatsverträge vorsieht, will sie weniger die Basisdemokratie als den Einfluss der konservativen Kleinkantone stärken, von denen man annehmen kann, dass sie eine grundsätzliche Abneigung gegen Vereinbarungen mit der Aussenwelt haben.

Eine wirkliche Verbesserung der demokratischen Mitbestimmung bestünde nicht darin, dass man noch häufiger nach langen Verhandlungen entweder die vollendete Tatsachen schlucken oder mit einem Nein reagieren muss. Besser wäre, obwohl auch dies nur eine schöne Theorie ist, prospek­tive Abstimmungen zu möglichen ­Szenarien durchzuführen, damit die Exekutive einigermassen verbindlich weiss, wovon sie in ihren Verhandlungen ausgehen kann.

Was die parlamentarische Mit­spra­che betrifft, sind solche Erwartungsbekundungen mitt­lerweile garantiert; und von einem Parlament darf man annehmen, dass es sich auch später an frühere Entscheide gebunden fühlt. Weniger sicher ist dagegen, dass das Volk, wenn es am Schluss nochmals mitredet, sich an das erinnert, was es in einer früheren Phase vorgegeben hat.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 08.06.12

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