Wenige Menschen harren in der «Todeszone» bei Fukushima aus. Sie haben jede Hoffnung verloren.
Auf den Wiesen am Ortseingang liegen Kadaver verendeter Kühe und Hühner, ein übler Geruch durchdringt die Luft. In den Vorgärten der kleinen japanischen Holzhäuschen wuchern wilde Pflanzen, tummelt sich massenhaft Ungeziefer. Aus den geborstenen Strassen schiesst Unkraut. Tomioka in der Präfektur Fukushima gleicht nicht nur einer Geisterstadt. Der Ort, den einst 16 000 Menschen ihre Heimat nannten, ist wirklich gottverlassen, stirbt menschenleer vor sich hin.
Das Jahrhundertbeben am 11. März hat den Flecken im Nordosten Japans in einem Masse verwüstet und entstellt, dass er wohl für Generationen unbewohnbar bleibt. Nukleares Niemandsland, nach Beben, Tsunami und dem Desaster im nahe liegenden Atomkraftwerk fluchtartig verlassen aus Angst vor radioaktiver Verseuchung.
Alltag in der Todeszone
Die Zahl der Einwohner von Tomioka heute: ganze 1. Naoto Matsumara lebt hier völlig allein, ernährt sich von selbst geangeltem Fisch und Konserven, die er sich aus weit entfernten Supermärkten besorgt. Zur Stromversorgung nutzt er Uralt-Generatoren, das Wasser kommt aus einem privaten Brunnen. Sein einziger lebender Kontakt und Begleiter ist der Hund Aki.
Der 53-jährige Reisbauer weigert sich ungeachtet der Regierungsorder, das verstrahlte Gebiet zu verlassen. «Wenn ich aufgebe und den Ort verlasse, dann ist endgültig alles vorbei», motiviert sich der letzte Verbliebene von Tomioka. «Es ist meine Verantwortung und mein Recht», fügt er ernsthaft hinzu.
Was wie Rebellion, ziviler Ungehorsam oder ohne Sinn und Verstand wirkt, ist pure Verzweiflung und Trotz. Denn eigentlich wollte auch Naoto Matsumara seine Heimatstadt verlassen. Er fuhr zu einer Verwandten im Glauben, dort für eine Weile bleiben zu können. «Aber meine Cousine hat mich nicht einmal über die Türschwelle treten lassen, weil sie Angst hatte, ich sei kontaminiert.»
Danach versuchte er es in einem Evakuierungszentrum, aber dort nahmen sie ihn nicht auf, weil es keinen Platz mehr gab. «Das hat mir gereicht und mich bewogen, wieder nach Hause zu gehen.»
Obwohl der Einsiedler auch weiss, dass die radioaktive Strahlung nach der Havarie in Fukushima 168-mal höher war als die der Atombombe von Hiroshima und die Krebsgefahr akut ist, bleibt er eben. Wo soll er auch hingehen? Die Polizei, die den abgeriegelten Ort regelmässig kontrolliert, übersieht den Mann einfach, obwohl jeder in der Verbotszone eigentlich verhaftet und bestraft werden sollte. Würde sie eingreifen, müsste der Staat direkte Verantwortung übernehmen, für Abhilfe sorgen. Also überlässt sie ihn lieber seinem «selbstgewählten» Schicksal.
Nicht so extrem, aber ähnlich gross ist das Dilemma Tausender «Atomflüchtlinge», die ihre Städte und Dörfer rund um das AKW Fukushima nach den Havarien verlassen sollten. Die Regierung hat zwar Verbotszonen erlassen, aber die Menschen mussten meist allein eine andere Bleibe finden. Auf Hilfsbereitschaft und Gemeinsinn hofften in dieser fatalen Lage viele vergeblich. «Man will uns einfach vergessen», klagt Matsumara. «Das ganze Land macht weiter wie bisher, und die anderen wollen nicht an uns denken.»
Überall in der Krisenregion finden sich solche Versprengte, setzen sich bewusst den unkalkulierbaren Gefahren und Risiken aus, die ein Leben im Strahlenumkreis mit sich bringt. In der Not ringen einige dieser fatalen Situation eine neue Lebensaufgabe ab. Nobuyoshi Ito aus dem Dorf Iitate in der Fukushima-Präfektur will als «Versuchskaninchen» für radioaktive Strahlung Dienst tun. «Ich trage niemals eine Maske oder einen Schutzanzug», sagt der ehemalige IT-Ingenieur. Dabei wohnt er nur rund 30 Kilometer von der AKW-Ruine entfernt.
Leben als «nuklearer Samurai»
Der 67-Jährige versteht sich als «nuklearer Samurai», als Frontkämpfer in einem Glaubenskrieg, der Japans Experten in zwei Lager teilt. «Die anti-atomare Gruppe sagt, auch kleine Dosen radioaktiver Strahlung sind gefährlich für die menschliche Gesundheit», erklärt Ito. Die andere Partei vertrete den Standpunkt, «selbst erhöhte Strahlenwerte würden weniger krebserregend wirken als Zigaretten oder bestimmte Lebensmittel».
Ito steht auf keiner Seite, er will Klarheit. «Ich habe mich entschieden, im Selbstversuch zur Beantwortung dieser Frage beizutragen.» Fast jeden Tag misst er seit März die Strahlenwerte um sein Haus und registriert, dass diese meist über den offiziellen Angaben liegen, die von der nunmehr acht Kilometer ausgelagerten Gemeinde Iitate angegeben werden. Der Hobby-Landwirt baut Reis, Kartoffeln, Auberginen und anderes Gemüse an. Er hegt und pflegt seine Kulturen nicht zum Verzehr, sondern im Dienst der Forschung.
Behörden vertuschen Gefahren
Man sollte annehmen, Ito sei ein Verrückter. Aber der Strahlenpionier gehört offenbar zur Partei der Optimisten. Er habe sich im August in Tokio gründlich untersuchen lassen und die Ärzte hätten überhaupt nichts Auffälliges gefunden, sagt der Mann stolz. Natürlich weiss er, dass langfristige Schäden erst in 15 oder 20 Jahren spürbar sind. «Dann werden wir sehr viel mehr über die Auswirkungen der Strahlung wissen und dann wird hoffentlich mein persönlicher Einsatz nicht umsonst gewesen sein.»
Wie gefährlich ist das Leben im nuklearen Niemandsland? Kimie Furuuchi ist zutiefst verunsichert. Die Frau aus der völlig zerstörten Stadt Minamisoma floh mit ihren drei Töchtern im April in die südlicher gelegene Chiba-Präfektur. Jetzt erhielt sie Post von ihrem Bürgermeister. Der Brief begann mit der harmlosen Anrede: «Liebe Evakuierte aus Minamisoma!» Weiter heisst es: «Wir versuchen, eine Umwelt zu schaffen, in der die Flüchtlinge aus Minamisoma so schnell wie möglich wieder zurückkehren können.»
Behörden und Strahlenexperten beruhigen Frau Furuuchi immer wieder, ihre Heimat sei sicherer geworden. Aber niemand sagt, sie sei wirklich sicher. Die Stadt Minamisoma befindet sich in der offiziellen Evakuierungszone zwischen 20 und 30 Kilometer Entfernung von den GAU-Meilern. Diese Zone zählte vor der Atomkatastrophe 58 000 Einwohner, jetzt leben trotz der Warnung vor Verstrahlung noch immer 28’000 Menschen dort.
Ratlose Politiker
Die Verbliebenen sind amtlich aufgefordert, die Gegend zu verlassen oder sich nur im Innern von Gebäuden aufzuhalten, was schon ein ziemlicher Unterschied ist, der kaum für Lebenssicherheit sorgt. Diese kryptische Anordnung soll bis Ende des Jahres aufgehoben werden, vorausgesetzt die betroffenen Ortschaften legen Pläne für eine Dekontaminierung vor.
Keiner weiss, wie das gehen soll, niemand stellt Geld oder Leute dafür zur Verfügung. Auch die Politik wirkt ratlos. «Japan hat keine legalen Richtlinien für ein radioaktives Desaster», klagt der Bürgermeister von Fukushima, Takanori Seto. «Aber die Gemeinden müssen jetzt mit dieser Lage trotzdem klarkommen.» So schrubben Bewohner in Selbsthilfe die Dächer, putzen ihre Bäume und tragen vor allem Erde ab, die mit radioaktiven Substanzen wie Caesium verseucht sein könnte. Dann geht es ein paar Tage besser und plötzlich ist die Strahlung wieder da. Gegen Luft, Wind und Regen gibt es kein Mittel.
Auch deshalb möchte die Krankenschwester Furuuchi eigentlich nicht zurück. Aber ihr Krankenhaus hat sie ultimativ zur Rückkehr aufgefordert. Geht sie nicht, verliert sie ihren Job und muss dazu noch eine gewaltige Summe zurückzahlen, die das Hospital für ihre Weiterbildung vorgeschossen hat. Wie soll sie sich in dieser Lage entscheiden?
Eine Umfrage der Universität von Fukushima unter ehemaligen Bewohnern einer Sperrzone zeigt, wie beunruhigt die Menschen sind und wie tief das Misstrauen gegenüber der Regierung sitzt. Nur fünf Prozent der Befragten antworteten, dass sie in die alte Heimat zurückgehen werden, sobald die Behörden die Region wieder für sicher erklären.
Hunderte haben die Stadt verlassen
Bleiben oder gehen – und wenn ja, wohin? «Ich möchte eigentlich nicht länger hier leben», sinniert Takako Abe, wenn sie auf die unzähligen Schuttberge und Schrotthaufen von Minamisanriku schaut. «Aber das war mehr als 40 Jahre meine Heimat, ich kenne keine andere.» Von den einst 18 000 Einwohnern sind 1200 ums Leben gekommen. Hunderte haben die Stadt verlassen und Zuflucht bei Verwandten gefunden.
Frau Abe spricht von tiefen Bindungen an diese Stadt, wo Familien oft seit Generationen zusammen leben. Aber wie wird der Ort nach dem Wiederaufbau aussehen? Wie werden die Menschen die Zeit überstehen, bis die Stadt einmal wieder funktioniert? Und was wird, wenn vielleicht ein neues Beben, ein neuer Tsunami den Rest zerstören? Mindestens einmal pro Woche bebt noch immer die Erde.
Die Aussichten sind so unklar, dass «jede persönliche Planung unmöglich ist», klagt der Fischer Choya Goto. Der 52-Jährige schätzt sich immerhin noch glücklich, weil seine Familie überlebt hat und er ein intaktes Boot besitzt. Sein Kahn gehört zu den nur 50 von über 1000 Fischkuttern des Ortes, die in dem verheerenden Tsunami nicht zerborsten sind. Goto möchte bleiben und wieder arbeiten. Aber der Hafen ist noch zerstört, und wer kauft Fisch, der radioaktiv verseucht sein könnte? «Im Moment kann ich mir keine neue Kleidung und nur wenig Essen leisten.»
Nicht alle verlieren den Mut und manchmal wendet sich das Schicksal doch noch zum Besseren. Masato und Manami hatten ihre Hochzeit perfekt geplant, am 14. März wollte sich das Pärchen auf dem Standesamt von Fukushima das Ja-Wort geben. Dann aber passierten drei Tage zuvor das Jahrhundertbeben, der Tsunami und der Atom-GAU, die Flucht. Die beiden nahmen sich keine Zeit, irgend etwas mitzunehmen, ausser den Sachen am Leib. Der einzige Gegenstand, der aus ihrem bisherigen Leben blieb, war der Verlobungsring, den Manami am Unglückstag trug.
Heirat nach monatelanger Odyssee
Nach einer Odyssee durch zehn verschiedene Notunterkünfte im Nordosten versuchte der Bräutigam Masato Ishida, im 800 Kilometer entfernten Osaka einen Job zu finden, vergeblich. Das Paar hatte kaum Geld, dafür zunehmend Stress und Streit. Die beiden zogen weiter in die noch südlichere Saitama-Präfektur, wo der 23-jährige Bräutigam schliesslich Arbeit fand. «Ich hatte ganz plötzlich meinen Job verloren, mein Haus und meine Heimatstadt», blickt Masato Ishida zurück. «Aber trotz all der Belastungen hat unsere Beziehung gehalten und wir wollen gemeinsam ein neues Leben beginnen.»
Am 14. Juli heirateten Masato und Manami exakt mit vier Monaten Verspätung – ganz schlicht und ohne Feier. Sie liessen sich einfach von den Behörden amtlich als Ehepaar registrieren. Keine Trauzeugen, keine Verwandten, kein Brautkleid und dennoch nicht unbemerkt. Ein Lokalreporter aus der alten Heimat bekam Wind davon und jubelte: «Die Atomflüchtlinge haben es schliesslich geschafft. Es ist bisher das einzige Happy End in unserem Ort.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 30/12/11