Immer noch campieren Aktivisten auf dem Maidan in Kiew. Vor der Wahl sind viele von ihnen ernüchtert: Für das Präsidentenamt kandidieren mit Julia Timoschenko und dem Schokoladen-Oligarchen Petro Poroschenko zwei altbekannte Gesichter – revolutionäre Aufbruchsstimmung ist verflogen.
Es ist Mai, aber der grosse metallene Weihnachtsbaum mitten auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew, steht noch immer. Das Gerüst ist mit Plakaten übersät und so etwas wie das Schwarze Brett der Revolution. Im Winter hing hier ein Porträt von Julia Timoschenko, bis vor wenigen Wochen ein Konterfei des russischen Präsidenten Wladimir Putin – mit Hitlerbart.
Inzwischen sind die Bilder abgehängt. Über das Feindbild Wladimir Putin herrscht Einigkeit, doch es fehlt eine Ikone für den Präsidentschaftswahlkampf. Euphorie für einen Kandidaten sucht man hier vergebens. Überhaupt merkt man am Maidan wenig davon, dass am Sonntag in der Ukraine ein neuer ukrainischer Präsident gewählt werden soll.
Nach dem Umsturz hatte es durchaus Versuche gegeben, Maidan-Aktivisten in die Übergangsregierung zu holen. Drei erhielten ein Ministeramt. Doch das Misstrauen gegen die Regierung, die zum grossen Teil aus alten Gesichtern besteht, ist unter den Aktivisten trotzdem gross.
Dmytro Jarosch, der Chef des «Rechten Sektors», war ebenso für einige Posten im Gespräch. Dem radikalen «Rechten Sektor» wird grosse Bedeutung für den Umsturz im Februar beigemessen. Jarosch kandidiert nun ebenfalls für das Präsidentenamt, in Umfragen liegt er jedoch bei weniger als einem Prozent. Viele Ukrainer lehnen die Ansichten der rechtsextremen Gruppe ab.
So auch Ljubow. Sie ist Krankenschwester und hat mitgeholfen, ein Gebetszelt für alle Konfessionen am Maidan aufzubauen. Wenn sie wählen könnte – sie stammt aus der Region Winnyzja, hat aber einen russischen Pass und ist deswegen nicht wahlberechtigt – würde sie bei Oleh Ljaschko ihr Kreuz machen, einem Kompromisskandidaten zwischen der alten Elite und den extremen Positionen des «Rechten Sektors». «Er hat zumindest mit uns Molotow-Cocktails geworfen, während die anderen Politiker in der warmen Stube sassen», sagt sie. Ljaschko sass mehrere Jahre für die Timoschenko-Partei im Parlament, bevor er 2010 die «Radikale Partei» gründete und sich im Winter den Protesten am Maidan anschloss.
Taras, der ehemalige General aus Lemberg, fordert endlich eine starke Führung. (Bild: Simone Brunner)
Wenige Meter weiter blinzelt Taras, ein ehemaliger General aus Lemberg, in einem bunten Trachtenhemd und einem dicken Fellhut in die Mai-Sonne. Wenn die Rede auf die Politik kommt, ist das gütige Lächeln schnell verflogen. «Wir brauchen endlich eine starke Führung und neue Gesichter», sagt der Mann mit dem üppigen Schnauzbart.
Laut den Aktivisten sollte die Zeltstadt ursprünglich nach dem 25. Mai, dem Tag der Präsidentschaftswahl, abgebaut werden. Davon ist längst keine Rede mehr. Taras spricht aus, was dieser Tage viele am Maidan denken: «Wir bleiben, bis das Land ganz auf Reformen eingestellt ist. Wenn das nicht passiert, wird sich der Maidan eben noch einmal erheben. So lange und so oft, wie es nötig ist!»