Erst hat er sie entmachtet, jetzt braucht er sie als Verbündete: Der um seine politische Zukunft kämpfende türkische Premier Tayyip Erdogan sucht die Nähe der Militärs. Eine Analyse.
Tayyip Erdogan kämpft um sein politisches Überleben. Der türkische Premier ist mit Korruptionsvorwürfen gegen seine Regierung konfrontiert, selbst gegen seinen Sohn wollte ein Staatsanwalt ermitteln – der daraufhin sofort kaltgestellt wurde. Erdogan vermutet als Drahtzieher hinter den Bestechungsvorwürfen den islamischen Reform-Prediger Fetullah Gülen, dessen Gefolgsleute an Schaltstellen des Polizeiapparats, der Justiz und der öffentlichen Verwaltung sitzen.
Im Zuge der Korruptionsaffäre griff der türkische Ministerpräsident Erdogan nun hart durch. Die Regierung hat Hunderte Polizisten in der Hauptstadt Ankara entlassen, melden türkische Medien. Erdogan sucht derweil Verbündete – ausgerechnet im Militär.
Sie haben ihn bis aufs Messer bekämpft, liessen ihn ins Gefängnis werfen und wollten seine Partei verbieten: Für die türkischen Generäle, die sich als Wächter über die weltliche Staatsordnung sehen und seit 1960 vier demokratisch gewählte Regierungen stürzten, war der Islamist Tayyip Erdogan stets ein rotes Tuch.
Die Rache des Premierminsters
Erdogan nahm Rache: Schritt für Schritt drängte er als Premierminister den politischen Einfluss der Militärs, die noch in den 1990er Jahren als die heimlichen Herrscher des Landes galten, zurück. Dutzende Offiziere, unter ihnen Generäle und Admiräle, wurden wegen angeblicher Putsch-Pläne gegen Erdogan vor Gericht gestellt und zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.
Wie weit die türkischen Militärs bereits gezähmt sind, zeigte sich Ende Dezember. Nachdem es in Teilen der Medien Spekulationen über eine mögliche Intervention der Streitkräfte in der Korruptionsaffäre gegeben hatte, veröffentlichte der Generalstab in Ankara eine Erklärung: Die türkischen Streitkräfte dienten der Nation «mit äusserster Loyalität auf der Grundlage der Gesetze und der demokratischen Prinzipien». Die Armee werde «mit grosser Umsicht alle politischen Kontroversen meiden».
Wie weit die türkischen Militärs bereits gezähmt sind, zeigte sich Ende Dezember mit einer Erklärung.
Die Entmachtung der Militärs verdankt Erdogan auch der Unterstützung Gülens. Seine Bewegung half der regierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) tatkräftig dabei, den Einfluss der Generäle zurückzudrängen und Schlüsselpositionen im Staatsapparat, die bis dahin traditionell von Kemalisten, den Anhängern des vom Militär ganz besonders verehrten Staatsgründers Atatürk gehalten wurden, mit eigenen Leuten zu besetzen. So gewann Gülen immer mehr Einfluss – und wurde Erdogan schliesslich zu mächtig. Heute ist der einstige Verbündete ein Widersacher.
Nun scheint Erdogan im Machtkampf mit Gülen ausgerechnet auf die Militärs zu setzen. Und er lieferte den Generälen bereits eine Steilvorlage. Erdogan sprach in den vergangenen Wochen im Zusammenhang mit den Korruptionsvorwürfen immer wieder von einem «Komplott» und einem «Coup der Justiz». Dann erklärte sein Top-Berater Yalcin Akdogan, jene, die hinter dem «Komplott» gegen die Regierung stünden, hätten sich zuvor gegen das Militär verschworen. Daraufhin reichte der Generalstab vergangene Woche Klage wegen einer «Verschwörung» gegen die Streitkräfte ein.
Wiederaufnahme von Gerichtsverfahren wegen Putsch-Plänen
Die Anzeige zielt auf einer Wiederaufnahme der Gerichtsverfahren ab, in denen während der vergangenen Jahren Dutzende Offiziere wegen angeblicher Putsch-Pläne zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Premier Erdogan, der seinerzeit die Prozesse unterstützte, erklärte jetzt, die Regierung habe nichts gegen eine Wiederaufnahme der Verfahren einzuwenden: «Unsererseits gibt es da kein Problem», sagte Erdogan. Erdogans Flirt mit den Generälen ist zugleich eine weitere Eskalation im Machtkampf mit der Gülen-Bewegung. Denn deren Anhänger in der Justiz galten als treibende Kraft hinter den Prozessen gegen die Militärs.
Zwar lehnte ein Gericht am Montag einen Antrag auf Freilassung des inhaftierten früheren Generalstabschefs Ilker Basbug ab. Aber nach Einschätzung von Rechtsexperten könnte eine Wiederaufnahme der Verfahren gegen die Militärs zu Freisprüchen führen. Denn es gibt Anzeichen dafür, dass die Beweisführung in den ursprünglichen Prozessen mehr als unzureichend war. Manche Beobachter sprechen sogar von «gefälschten Indizien».