Nach seinem Sieg bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei schlägt der bisherige Premier Recep Tayyip Erdogan ungewohnt versöhnliche Töne an. Zugleich kündigt er an, die Weichen zu stellen, um eine «Neue Türkei» mit einem stärkeren Staatspräsidenten zu schaffen. Zunächst aber muss ein neuer Ministerpräsident gefunden werden.
Nach seiner Wahl zum 12. Präsidenten der türkischen Republik schlägt Recep Tayyip Erdogan versöhnliche Töne an: «Heute haben auch jene gewonnen, die mich nicht gewählt haben», erklärte Erdogan am späten Sonntagabend vor Anhängern in der Hauptstadt Ankara. Erdogan, der das Land bereits seit elfeinhalb Jahren als Premierminister regiert, hatte die erste direkte Wahl eines Staatspräsidenten in der 91-jährigen Geschichte der Republik bereits im ersten Durchgang mit einer absoluten Mehrheit von 52 Prozent gewonnen.
«Es gibt keine Verlierer», rief Erdogan der Menschenmenge zu, die sich vor dem Hauptquartier seiner islamisch-konservativen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) versammelt hatte. Erdogan versprach «eine neue Ära der sozialen Aussöhnung, um die Konflikte der alten Türkei hinter uns zu lassen». Das klang ungewohnt aus dem Munde eines Politikers, der in den vergangenen Jahren mit scharfen Angriffen auf seine politischen Gegner und der gezielten Kriminalisierung von Kritikern das Land polarisiert hatte. Noch im Präsidentschaftswahlkampf grenzte Erdogan ethnische Minderheiten wie die Armenier und religiös Andersdenkende wie die Aleviten aus. Jetzt appellierte er: «Lasst uns alle Energie für die Neue Türkei mobilisieren.» Ein Feuerwerk beschloss die nächtliche Siegesfeier vor dem AKP-Hauptquartier.
Zusätzliche Machtbefugnisse
Die «Neue Türkei», von der Erdogan schon im Wahlkampf immer wieder sprach, ist eine Anspielung auf die politischen Weichenstellungen, die nun bevorstehen. Erdogan will mit einer Verfassungsänderung die Rolle des Staatspräsidenten aufwerten und sich zusätzliche Machtbefugnisse verschaffen. Dazu braucht er eine Zweidrittelmehrheit im nächsten Parlament, das regulär im Juni 2015 gewählt werden soll. Erdogan könnte allerdings versuchen, die Gunst der Stunde zu nutzen und die Parlamentswahlen auf den Herbst vorziehen.
Vorranging muss Erdogan nun aber erst einmal seine Nachfolge als Ministerpräsident und Vorsitzender der AKP regeln, bevor er am 28. August das Präsidentenamt antritt. Es wird erwartet, dass Erdogan beide Positionen mit einem loyalen Politiker seines Vertrauens besetzt. Als Anwärter werden Vizepremier Bülent Arinc, der frühere Verkehrsminister Binali Yildirim, der ehemalige Justizminister Mehmet Ali Sahin und Aussenminister Ahmet Davutoglu genannt.
Manche Beobachter werteten es als einen Fingerzeig auf Davutoglu, dass Erdogan seine Abschlusskundgebung am Samstag in dessen Heimatstadt Konya veranstaltete. Der Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Davutoglu gilt in der AKP als «Hodscha», als «Lehrer». Er war Professor an der Marmara-Universität, bevor er von Erdogan zum Berater berufen wurde. Seit 2009 ist er Aussenminister. Davutoglu hat allerdings auch Kritiker in den eigenen Reihen, denn aussenpolitisch ist die Türkei in den vergangenen Jahren zunehmend in Isolation geraten.
Erdogan wird Fäden ziehen
Es gilt als sicher, dass Erdogan auch als Präsident in der Regierung und in der AKP die Fäden ziehen wird. Viel wird der künftige Regierungs- und Parteichef deshalb nicht zu sagen haben. Als Staatsoberhaupt kann Erdogan beispielsweise das Kabinett unter seinem Vorsitz einberufen – eine Möglichkeit, von der seine Vorgänger sehr selten Gebrauch gemacht haben. Erdogan dagegen kündigte bereits an, er werde den Ministerrat einmal im Monat zusammenrufen. In jedem Fall dürfte sich der Schwerpunkt der politischen Exekutive mit Erdogans Amtsantritt in den Präsidentenpalast auf dem Cankaya-Hügel über Ankara verlagern.
Über die künftige Rolle des bisherigen Präsidenten Abdullah Gül wird noch spekuliert. Überlegungen, Gül könnte ins Amt des Premierministers wechseln, sind vom Tisch. Er hat offenbar keine Lust, ein Ministerpräsident von Erdogans Gnaden zu sein. Und dem neuen Staatspräsidenten Erdogan wäre Gül wohl als Partei- und Regierungschef zu stark. In seiner Siegesrede erwähnte Erdogan seinen alten politischen Weggefährten Gül jedenfalls mit keinem Wort.