Die Absetzung des ägyptischen Islamisten Mohammed Mursi durch das Militär alarmiert auch den türkischen Premier Tayyip Erdogan. Droht ihm ein ähnliches Schicksal? Keine ganz abwegige Frage, vor dem Hintergrund der massiven Anti-Regierungs-Proteste, die in den vergangenen Wochen die Türkei überrollten. Tahrir, Taksim: Die Bilder ähneln sich. Umso mehr beeilt sich Erdogan nun, die Armee an die Kandare zu nehmen.
Der Putsch in Ägypten war für Erdogan immerhin Anlass, seinen Urlaub in Urla an der türkischen Ägäisküste am Donnerstag zu unterbrechen und zu einer Krisensitzung nach Istanbul zu fliegen. An dem dreistündigen Treffen nahmen unter anderem Vizepremier Bülent Arinc, Außenminister Ahmet Davutoglu und der Chef des türkischen Geheimdienstes Hakan Fidan teil. Was die Herren erörterten, ist geheim.
Aber neben den regional- und geopolitischen Auswirkungen des Staatstreichs in Ägypten dürften sich die Teilnehmer des Treffens zumindest im Hinterkopf die Frage gestellt haben: Könnte auch in der Türkei die Armee eingreifen, um die islamisch-konservative Regierung Erdogan aus dem Amt zu hebeln? Immerhin haben die türkischen Militärs seit 1960 bereits vier Mal demokratisch gewählte Regierungen entmachtet. Zuletzt drängten sie 1997 den islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan aus dem Amt, Erdogans politischen Mentor.
Militärmacht immer weiter beschnitten
Jetzt will Erdogan mit einer Änderung des Militärgesetzes verhindern, dass ihm so etwas widerfährt. Artikel 35 des türkischen Militärgesetzes verpflichtet die Streitkräfte nicht nur zur Verteidigung des Landes gegen eine Bedrohung von aussen sondern bestimmt sie auch zu Hütern der Republik und der Verfassung.
Unter Berufung auf diese Wächterrolle übernahmen die türkischen Militärs 1960, 1971 und 1980 die Macht. 1997 drängten sie Erbakan wegen islamistischer Umtriebe aus dem Amt, nachdem er sich zuvor einem Ultimatum der Generäle widersetzt hatte. Die Entmachtung Erbakans, für die nicht einmal Panzer rollen mussten, ging als «postmoderner Coup» in die Geschichte der Republik ein.
Seit dem ersten Wahlsieg seiner islamisch-konservativen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) hat Erdogan die Macht der Militärs immer weiter beschnitten. Er berief sich dabei auch auf die Reform-Forderungen der Europäischen Union, die den dominierenden Einfluss der Armee immer wieder kritisierte. Der von den Generälen dominierte Nationale Sicherheitsrat (MGK), in den 1990er Jahren die eigentliche Entscheidungsinstanz des Landes, ist heute ein fast bedeutungsloses Gremium. 2007 versuchten die Generäle, die Wahl des Erdogan-Weggenossen Abdullah Gül zum Staatspräsidenten zu verhindern. Sie scheiterten damit ebenso wie mit dem Versuch, die AKP vom Verfassungsgericht verbieten zu lassen. Danach spürte Erdogan Rückenwind.
Generalstab auf Tauchstation
Wegen angeblicher Putschpläne wurden in den vergangenen Jahren Hunderte aktive und pensionierte Offiziere festgenommen und angeklagt, unter ihnen 72 Ex-Generäle. Im Sommer 2011 entschied Erdogan auch eine Kraftprobe um die Beförderungen ranghoher Offiziere für sich. Die Führung der Streitkräfte trat daraufhin geschlossen zurück. Beobachter sahen darin die Kapitulation des Militärs vor Erdogan.
Auch jetzt ist der Generalstab auf Tauchstation. Aber man kann nie wissen. Während der Proteste sollen Soldaten in Zivil Gasmasken an die Demonstranten verteilt haben. Bei der Entmachtung der Streitkräfte kann sich Erdogan zwar der Zustimmung einer großen Mehrheit der Bevölkerung sicher sein. Viele Kemalisten, die in der Tradition des Staatsgründers (und Generals) Mustafa Kemal Atatürk stehen, sehen im Militär aber immer noch den Retter, wenn es um die Verteidigung der weltlichen Staatsordnung geht. Tatsächlich hätten die Generäle noch vor einigen Jahren in einer Situation wie der gegenwärtigen unter Berufung auf die befürchtete Islamisierung von Staat und Gesellschaft wohl längst die Macht an sich gerissen.
Dem will Erdogan einen Riegel vorschieben. Sobald das Parlament im Oktober aus der Sommerpause kommt, soll es die Änderung des Artikels 35 des Streitkräftegesetzes beschließen. Nach der Neufassung soll das Militär nur noch für die Abwehr von «Bedrohungen oder Gefahren aus dem Ausland» und die «Sicherung des internationalen Friedens» zuständig sein.