Erdogan zerstört sein Lebenswerk

Kein Politiker seit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk hat die Türkei so stark geprägt wie Tayyip Erdogan. Durch seinen autoritären Regierungsstil droht der türkische Regierungschef jedoch seine Verdienste bei der Annäherung an die EU zunichte zu machen. Heute besucht er Berlin. Zeit für eine Analyse von unserem Korrespondenten.

Hat eigentlich keinen Grund zum Jubeln: Türkeis Regierungschef Tayyip Erdogan zerstört sein eigenes Lebenswerkt. Stück für Stück. (Bild: UMIT BEKTAS)

Kein Politiker seit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk hat die Türkei so stark geprägt wie Tayyip Erdogan. Durch seinen autoritären Regierungsstil droht der türkische Regierungschef jedoch seine Verdienste bei der Annäherung an die EU zunichte zu machen. Zeit für eine Analyse von unserem Korrespondenten.

Kein Politiker seit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk hat die Türkei so stark geprägt wie Ministerpräsident Tayyip Erdogan. Seit seinem Amtsantritt vor elf Jahren erlebte das Land eine in seiner jüngeren Geschichte beispiellose wirtschaftliche Blüte.

Erdogan drängte den dominierenden politischen Einfluss der Militärs zurück und ebnete mit Reformen den Weg zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. Aber Erdogan, der am Dienstag Berlin besucht, ist nun drauf und dran, sein politisches Lebenswerk zu zerstören.

Es begann gut: Mehr Rechte für die Kurden

Durchwachsen war Erdogans Regierungsbilanz von Anfang an. Er bemühte sich um eine politische Lösung des Kurdenkonflikts, dessen blutige Spur sich seit 90 Jahren durch die Geschichte der türkischen Republik zieht. Er lockerte die kurdischen Sprachverbote und gab der Minderheit mehr kulturelle Rechte. Erdogan suchte den Dialog mit anderen Religionsgemeinschaften und versprach die Diskriminierung christlicher Gemeinden zu beenden.

Zugleich aber grenzte er die muslimische Minderheit der Aleviten immer stärker aus und versuchte, der Gesellschaft seine eigenen, religiös geprägten Werte aufzuzwingen. Skeptiker warnen seit Jahren vor einer «geheimen Agenda» des gewendeten Islamisten, der Ende der 1990er-Jahre wegen religiöser Hetze im Gefängnis gesessen hatte.

Je länger er an der Macht ist, desto autoritärer gibt sich Erdogan. Kritik duldet er nicht. In keinem Land sitzen so viele Journalisten im Gefängnis wie in der Türkei. Nicht nur um die Pressefreiheit steht es schlecht. Im vergangenen Jahr wurde das Land vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof 118 Mal wegen Menschenrechtsverstössen verurteilt. Die Türkei liegt damit nach Russland, das 119 Urteile einstecken musste, auf einem unrühmlichen zweiten Platz.

Je länger er an der Macht ist, desto autoritärer gibt sich Erdogan.

Der Zorn auf den «Sultan», wie Erdogan wegen seines selbstherrlichen Regierungsstils oft genannt wird, entlud sich in den Demonstrationen vom vergangenen Sommer. Erdogan reagierte wie ein Despot, versuchte, die Proteste mit brutalen Polizeieinsätzen zu ersticken, beschimpfte die Demonstranten als «Gesindel» und «Nagetiere».

Die Massenproteste vom vergangenen Sommer markieren einen Wendepunkt. Das System Erdogan gerät ins Wanken. Mitte Dezember wurden Korruptionsvorwürfe bekannt, die bis in Erdogans eigene Familie hineinreichen. Der Premier spricht von einem «Komplott», liess Tausende Polizisten und Staatsanwälte versetzen und setzte Minister ab.

Am bisherigen Ende steht die Korruptionsaffäre

Die Absicht ist klar: Die Enthüllungen, hinter denen Erdogan Anhänger des Exil-Predigers Fetullah Gülen vermutet, sollen verschleiert, die Ermittlungen abgewürgt werden. Mit der versuchten Gängelung der Justiz setzt sich Erdogan über das Prinzip der Gewaltenteilung hinweg, das ein zentraler Grundsatz der Demokratie ist.

Während Erdogans Machtkampf mit der Justiz noch nicht entschieden ist, steht der Premier jetzt durch den Absturz der türkischen Lira vor seiner bisher grössten Herausforderung. Erdogan reagiert darauf ganz ähnlich wie auf die Massenproteste und die Korruptionsvorwürfe: Er spricht von «Verschwörungen», wettert gegen eine imaginäre «Zinslobby». Jetzt schmiedet der Regierungschef offenbar sogar Pläne, die Befugnisse der Zentralbank, die gegen seine Willen die Lira mit einer massiven Zinserhöhung zu stabilisieren versucht, einzuschränken. Damit macht Erdogan alles nur noch schlimmer.

Die Gefahr, dass aus der Währungs- eine Wirtschaftskrise wird, muss auch Deutschland als wichtigsten Handelspartner der Türkei und grössten ausländischen Investor beunruhigen. Das macht Erdogans Besuch in Berlin jetzt besonders wichtig. Mit dem Instrumentarium der Geldpolitik allein wird die Krise nicht zu bewältigen sein. Die Türkei muss vor allem Vertrauen zurückgewinnen. Ob das mit Erdogan an der Spitze möglich sein wird, mag man allerdings bezweifeln. Denn gerade er hat dieses Vertrauen verspielt.

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