«Es droht der Überwachungsstaat»

George Sheldon hält die 1:12-Initiative für gefährlich. Sollte sie gutgeheissen werden, würden alle mehr verlieren als gewinnen.

«Ich halte den zu erwartenden Schaden für wesentlich grösser als die wenigen vermeintlichen Lohnexzesse hierzulande»: George Sheldon, Professor für Arbeitsmarkt- und Industrieökonomie der Uni Basel (Bild: Martin Ruetschi/Keystone)

George Sheldon hält die 1:12-Initiative für gefährlich. Sollte sie vom Volk gutgeheissen werden, würden alle Arbeitnehmer mehr verlieren als gewinnen, warnt der Professor für Arbeitsmarkt- und Industrie­ökonomie an der Uni Basel.

Herr Sheldon, wie beurteilen Sie die 1:12-Initiative?

George Sheldon: Die 1:12-Initiative bedeutet einen massiven Eingriff in die Vertragsfreiheit hierzulande. Keine andere moderne Industrienation kennt eine solche ­Regelung. Ihre Umsetzung würde die Schweiz in einen Überwachungsstaat verwandeln, in dem ständig geprüft werden müsste, ob der Chef mehr als das Zwölffache des am schlechtesten ent­löhnten Mitarbeiters verdient. Der Tarif­frieden, um den die ganze Welt die Schweiz beneidet, wäre dahin.

Spätestens seit der «Abzocker-Initiative» des Unternehmers Thomas Minder, die vom Volk angenommen wurde, ist offenkundig, dass es ein weit verbreitetes Unbehagen gegenüber der Lohnentwicklung auf den Teppich­etagen gibt. Können Sie diese Skepsis nachvollziehen?

Ich vermute, dass dieses Unbehagen eine Folge der Finanzkrise ist, als die Allgemeinheit für die Fehler der Banken finanziell aufkommen musste. Dazu gesellen sich fehlende Kenntnisse der tatsächlichen Lohnverhältnisse in der Schweiz und mangelnder ökonomischer Sachverstand.

«Die vermeintlichen Lohnexzesse finden weitgehend im Ausland statt, aber doch nicht bei uns.»

Mangelnder Sachverstand? Wie meinen Sie das?

Die vermeintlichen Lohnexzesse finden weitgehend im Ausland statt, vor allem in den USA – aber doch nicht bei uns. Zudem übersteigen die ausländischen Exzesse die hiesigen um ein Vielfaches. Im internationalen Vergleich und nach allen gängigen Verteilungsmassen zeichnet sich die Lohnverteilung hierzulande durch eine grosse Ausgeglichenheit aus. Das wissen die meisten Menschen nicht. Stattdessen übertragen sie US-Verhältnisse ungeprüft auf die Schweiz.

Wie könnte die Wirtschaft aus ­Ihrer Sicht der wachsenden ­Skepsis seitens der Bevölkerung konstruktiv begegnen?

Die Wirtschaft soll für Aufklärung und ökonomischen Sachverstand sorgen. Aber auch die Presse, sofern sie sich für seriös hält, ist gefordert.

Manager verdienen immer mehr. Wie viel Lohn ist angemessen?

Zunächst ist festzuhalten, dass sich die Lohnschere in der Schweiz nicht öffnet (George Sheldon stützt sich dabei auf eine aktuelle OECD-Studie – Anmerk. d. Red.). Das zeigt die hiesige Statistik ­eindeutig. Aber zu Ihrer Frage: Was angemessen ist, lässt sich nicht wissenschaftlich klären. Es ist weitgehend eine Ansichtssache. Zudem ist es Aufgabe der Eigentümer einer Firma zu bestimmen, was angemessen ist, nicht jene der Öffentlichkeit. Die Minder-Initiative hat die Macht der Eigen­tümer diesbezüglich gestärkt.

Chefs argumentieren in Lohnfragen stets mit der Leistung. Gilt das auch für die Manager selber?

Was angemessen ist, sollte auch bei Managern von der erbrachten Leistung abhängen. John Hammergren etwa, CEO der US-Firma McKesson, hat seit seinem Amtsantritt 2001 den Börsenwert der Firma um rund 19 Milliarden US Dollar gesteigert, was dem Acht­fachen der allgemeinen Börsenentwicklung entspricht. Dafür hat er jährlich etwa 50 Millionen Dollar als Entlohnung bekommen. Aufsummiert über die Jahre macht das nur etwa drei Prozent der Wertsteigerung aus, für die er verantwortlich zeichnet. So gesehen, wirkt seine Entlohnung nicht exzessiv. Josef Ackermann dagegen, bis 2012 CEO der Deutschen Bank, hat einen viel kleineren Millionenbetrag jährlich verdient, aber dabei den Börsenwert der Deutschen Bank halbiert. Im Lichte dieser Leistung scheint mir sein viel kleineres Gehalt eher unangemessen zu sein.

Die Gegner der Initiative behaupten, bei einer Annahme würde die Standortattraktivität der Schweiz für global tätige Firmen markant sinken, das Land würde wirtschaftlich geschwächt.

Dies trifft fraglos zu. Wie die Beispiele von Amazon, Google, Apple und Starbucks im Zusammenhang mit Steuervermeidung zeigen, achten internationale Firmen immer auf die finanziellen Vorteile ihrer nationalen Standorte.

Wie beurteilen Sie die Situation in Basel? Würden die grossen ­Pharma-, Transport- und Finanzunternehmen tatsächlich dem Stadtkanton den Rücken kehren, falls die ­Ini­tiative durchkommt?

Ich denke schon. Es ist für international tätige Firmen doch ein Leichtes, ihre Hochlohnjobs ins Ausland zu verlagern. Ich halte den zu erwartenden Schaden für wesentlich grösser als die wenigen vermeintlichen Lohnexzesse hierzulande.

Welcher Schaden ist konkret zu erwarten?

Wenn Geschäftsteile ins Ausland verlagert werden, gehen hierzulande Arbeitsplätze verloren, im vorliegenden Fall vor allem Hochlohnjobs. Die Ein­kommen, die so wegfielen, dürften die paar vermeint­lichen Lohnexzesse hierzulande bei Weitem übersteigen.

«Es ist für international tätige Firmen doch ein Leichtes, ihre Hochlohnjobs ins Ausland zu verlagern.»

Wenn man vom Wegzug absieht: Welche weiteren Hintertüren gibt es für die betroffenen Unternehmen?

Ein Unternehmen könnte zum Beispiel jene Tieflohnarbeiter, deren Löhne die Gehälter der ­Manager einschränken, entlassen. Oder es könnte die ­betreffenden Mitarbeiter in eigene ­Firmen auslagern und deren Dienste extern beziehen.

In den kommenden Monaten stehen neben der 1:12-Initiative auch die Initiative für einen flächen­deckenden Mindestlohn und jene für ein bedingungsloses Grundeinkommen zur ­Debatte. Wie sehr beeinträchtigt diese geballte Ladung den hiesigen Wirtschaftsstandort?

Flächendeckende Mindestlöhne sind international nichts Besonderes. Sie können aber die Beschäftigungs­chancen derjenigen Angestellten ­beeinträchtigen, denen sie eigentlich dienen sollen, wenn sie – wie hierzulande vorgesehen – zu hoch gewählt werden. Zudem sind sie ein ungeeignetes Instrument, um die Erwerbsarmut zu bekämpfen, da sie keine Rücksicht auf die familiären Verhältnisse der ­Betroffenen nehmen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre nur über hohe Steuern zu ­finanzieren, was die Attraktivität der Schweiz natürlich auch nicht fördern würde.

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