«Es geht um die Türken in allen Ländern»

Die Meinungen über die Ereignisse in der Türkei gehen auch in der Schweiz auseinander. Basler Türken im Gespräch über ihr Empfinden gegenüber der Bewegung, wer Schuld hat an der Eskalation und was die Türkei nun erwartet.

«Wir versuchen, den Medien und Parteien im Ausland das wahre Gesicht Erdogans zu zeigen.» Ismail Atas, 53, Restaurantbesitzer (Bild: Nils Fisch)

Die Meinungen über die Ereignisse in der Türkei gehen auch in der Schweiz auseinander. Basler Türken im Gespräch über ihr Empfinden gegenüber der Bewegung, wer Schuld hat an der Eskalation und was die Türkei nun erwartet.

(Bild: Nils Fisch)


«Gewisse Leute sind extrem unzufrieden»;
Ismail Algin, 43, Sunnite, Anlage- und Apparatebauer
«Man muss friedliche und gewalttätige Demonstrationen unterscheiden. Was man in der Türkei nun gesehen hat, sind gewalttätige Demonstrationen – diese haben nichts mit Demokratie zu tun, denn es sind Demonstrationen, die von anderen Ländern gesteuert werden. Die Berichterstattung der internationalen und teils türkischen Medien hat das gezeigt. Beispielsweise gab es letzte Woche ein Festival in Istanbul, an welches Menschen aus über 140 Ländern angereist kamen. In den Medien wurde das jedoch nicht gezeigt. Man muss betrachten, was Erdogan in den letzten zehn Jahren für die Demokratie, für die Infrastruktur getan hat: Er hat eine Plattform geschaffen, damit alle Menschen Arbeit haben und Steuern zahlen können. Dem Staat geht es besser, die Kassen werden gefüllt. Gerade kürzlich konnten die Schulden gegenüber dem Internationalen Währungsfond (IWF) zurück bezahlt werden. Erdogan hat auch die Verständigung mit den Kurden verbessert. Jedesmal, wenn es keine Probleme mehr zu geben scheint, werden neue ausgelöst. Schlussendlich geht es um Geld – in den Vordergrund gestellt wird aber die Religion.»

(Bild: Nils Fisch)

«Die alevitische Gesellschaft ist in Basel anerkannt – in der Türkei nicht»; Hasan Kanber, 39, Alevit, Speditionsfachmann
«Meine Eltern kamen 1970 aus Erzincan in der Osttürkei in die Schweiz. Für sie ist es inspirierend, dass diese Bewegung losgetreten wurde. Als Teil der alevitischen Gemeinschaft stehen sie wie ich hinter der Protestbewegung. Ich bedaure, dass es Opfer gibt und Menschen zu Schaden gekommen sind. Aber gegen diese Regierung muss man mit solchen Mitteln seit 11 Jahren ankämpfen. Wir haben Wünsche und Anliegen gegenüber dem Staat, aber die werden ignoriert. Die alevitische Gesellschaft ist in Basel anerkannt, in der Türkei nicht. Aleviten werden zum Teil verfolgt. Das ist einer der Punkte, wieso ich mich von erster Minute an voll und ganz hinter die Protestbewegung gestellt habe. In der Türkei muss man der Regierung gut gesinnt sein, damit man in Ruhe Geschäfte führen kann, damit man sichere Arbeitsplätze hat. Die Arbeiter, die im Moment mit dem Gezi-Park zu tun haben – Strassenwischer, Polizisten – wenn sich da einer dagegen stellt, ist er sein Amt sofort los. Das darf es in einer Demokratie nicht geben und dagegen wehrt man sich nun. Ich bin aber der Meinung, dass die definitive Lösung an der Urne gesucht werden muss. In ungefähr acht Monaten sind Wahlen in der Türkei, dann sollte der Regierung ein Denkzettel verpasst werden. Nur auf diese Art kann die Regierung gebremst und eine Mässigung herbei geführt werden. Solange sich die Fronten verhärten, macht die Regierung weiter wie bisher. Das bedeutet schlussendlich eine Gefahr für Leib und Seele der Menschen in der Türkei. Das ist nicht der Sinn einer Demokratie.»

(Bild: Nils Fisch)

«Mit Wut zu handeln führt auch zu nichts»; Ismail Atas, 53, Alevit, Restaurantbesitzer
«Die Ereignisse rund um den Gezi-Park setzen Aggressionen frei, die sich nun zehn Jahre angestaut haben. Menschen, die der Regierung widersprachen, wurden inhaftiert und gefoltert. Ich bin in der Taksim-Kommission. Diese setzt sich aus türkischen Vereinen zusammen, darin sind Kurden und Aleviten vereint. Wir versuchen, den Medien und Parteien im Ausland das wahre Gesicht Erdogans zu zeigen. Während des Arabischen Frühlings verurteilte Erdogan die Gewalt der Diktatoren, nun geht er mit seiner Bevölkerung gleich um. Ich bin Alevit. Die Freiheit der Menschen ist Teil unserer Ideologie, aber diese wird momentan in der Türkei unterdrückt. Wenn ich nicht handle, kann ich meine Wut nicht im Zaum halten, und mit Wut zu handeln führt zu nichts. Es braucht vernüftige Lösungen. Erdogan nimmt die Staaten, die ihn um Vernunft bitten, nicht ernst. Nur das Ausland scheint sich bewusst zu sein, was hier genau abläuft.»

(Bild: Nils Fisch)


«Es wird versucht, ­Erdogan zu stürzen»;
Süleyman Karabulut, 41, Sunnite, IT-Consultant
«Unter Erdogan haben sich die Verkehrssituation, das Gesundheitswesen und die Wasserversorgung verbessert. Vom Wirtschaftsboom zu schweigen. Nun wird mit den Demonstrationen versucht, Erdogan zu stürzen, was nicht sinnvoll ist. Im Osten ist die Türkei das einzige Land, das Demokratie und Islam zusammenbringen konnte. Das hat Erdogan massgeblich vorangetrieben. In einer Demokratie werden Machthaber auf demokratische Art und Weise abgewählt und nicht dadurch, dass Leute auf die Strasse gehen und Steine werfen. Ich kann nicht gutheissen, was die Polizei getan hat, aber in der Hitze des Gefechts ­passieren derartige Sachen. Seitens kleiner Gruppen ­unter den Demonstranten wurde durch Aggression Öl ins Feuer gegossen, was die Lage zur Eskalation brachte. Die Leute, die sich in Istanbul für die Demonstrationen zusammengefunden haben, repräsentieren nicht das türkische Volk, wie sie meinen.»

(Bild: Nils Fisch)

«Es geht um die Türken in allen Ländern»; Derya Sahin, 24, Alevitin, Studentin Jura
«Als ich in den Medien Bilder von den ­Geschehnissen sah, dachte ich mir, das darf nicht wahr sein. Es darf nicht sein, dass in einem demokratischen Land so viele Freiheiten mit Gewalt und Folter unterdrückt werden. Ich wurde in der Schweiz geboren, wuchs allerdings in der Türkei auf, bis ich fünf war. Ich habe Familie dort, reise jedes Jahr ein- bis zweimal hin. Auch ich bin Teil der türkischen Gesellschaft. Meine Betroffenheit äussert sich durch ein stärkeres patriotisches Gefühl und eine Verbundenheit mit den Demonstranten. Ich bin nicht Teil ­einer Kommission, da ich nicht als Delegierte eines Vereins agieren möchte, sondern als Einzelperson, die von sich aus ein Problem mit der Situation hat. Ich will nicht, dass die Menschen in der Türkei und auf der Welt mit solcher Gewalt konfrontiert werden. In der Türkei verschwinden Leute, fünf Personen kamen bereits ums Leben, eine Person wurde durch ­einen Kopfschuss von der Polizei getötet: Mit Demonstrationen erreichen die Menschen in der Türkei nichts. Es braucht Druck aus dem Ausland. Internationale Demos sollen den Regierungen klar­machen, dass es nicht nur um die Menschen in der Türkei, sondern um die Türken in allen Ländern geht.»

(Bild: Nils Fisch)

«Es handelt sich um eine mediale Verschmutzung»; Mehmet Serin, 39, Sunnite, Dipl. Pflegefachmann
«Es hat mich entsetzt, dass eine unschuldige Demonstration derart missbraucht und vergewaltigt werden kann. Gewisse Gruppierungen haben sich das Recht genommen, auf friedliche Demos aufzubauen und Unruhe zu stiften. Meiner Meinung nach steckt dahinter ein System – Menschen, die sich Rechte zurücknehmen wollen, die sie einst hatten. Es gibt Kreise, die sich daran stören, dass sie nicht an der Macht sind. Die Medien berichten aber nur sehr einseitig über die Geschehnisse. Dass über eine Million Menschen für Erdogan auf die Strasse gingen, wurde nie gezeigt. Es handelt sich um eine mediale Verschmutzung, durch die ungerechte Kampagnen entstehen. Man muss eingestehen, dass gewisse Fehler begangen wurden. Von Polizei und Demonstranten wurde eine Entartung ausgelöst. Aber Menschen machen nun mal Fehler. Das berechtigt nicht dazu, mit Gewalt zu antworten, mit Zerstörung von Staatseigentum.»

(Bild: Nils Fisch)

«Gewisse Leute sind extrem unzufrieden»; Elvan Sahin, 38, Alevit, Bankkaufmann
«Was in der Türkei passiert, ist besorgniserregend. Die Demonstrationen zeigen, dass gewisse Leute unzufrieden sind mit der Regierungspartei. Demonstrationen entstehen nicht, weil Menschen Freude daran haben, sondern weil sie etwas durchsetzen wollen. Ich hoffe, dass sich die Lage beruhigt, Vereinbarungen zwischen der Regierung und den Demonstranten getroffen werden und die Stabilität wieder hergestellt wird. Sagt die Regierung zu allem Nein, könnte sich die Lage verschlimmern. In den letzten Tagen ist die Regierung den Demonstranten nicht entgegengekommen, sondern hat weiter Öl ins Feuer gegossen. Allen voran Erdogan. Er nennt die Protestierenden «Çapulcu», was auf Türkisch Plünderer heisst. Das finde ich unangebracht. Als Ministerpräsident darf man keine Äusserungen von sich geben, die einen Teil der Bevölkerung verletzen. Auch die Brutalität hat extrem viele Leute wütend gemacht.»

(Bild: Nils Fisch)

«Erdogan hat sich in letzter Zeit für die Kurden eingesetzt»; Aziz Ivecen, 41, Alevit, Besitzer Johanniter-Café

«Wenn ich Zeit habe, verfolge ich am Fernsehen, was in der Türkei passiert. Diese Gewalt ist schlimm. Ich finde es absolut unkorrekt, wie die Polizei mit den Demonstranten umgeht. Es tut weh, diese Bilder zu sehen. Das geht so nicht, man muss mit den Leuten sprechen und kann nicht einfach dreinschlagen. Ob die Demonstranten mit ihrer Kritik an Erdogan recht haben, weiss ich nicht. Ich lebe seit 24 Jahren hier in Basel und kann das aus der Distanz schlecht beurteilen. Wenn ich in die Türkei in die Ferien gehe, geniesse ich die Zeit dort sehr. Natürlich weiss ich auch von Freunden in der Türkei, die nicht zufrieden sind mit Erdogan. Die Meinungen gehen auseinander. Für die Kurden hat sich die Situation in letzter Zeit aber sehr gut entwickelt. Erdogan hat einiges unternommen, um den Konflikt zu lösen.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 21.06.13

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