«Es gibt in Eritrea keine Zukunft für uns»

Wie Tausende andere verliess die Eritreerin Helen ihr Land, um dem endlosen Militärdienst zu entkommen. Sie erzählt ihre Geschichte, wie sie von einem Dorf im Süden Eritreas in die Hauptstadt kam und dann mit einer Schlepperorganisation in die Schweiz.

Eva will nicht fotografiert werden. Sie verbrachte ihre ersten Lebensjahre in einem traditionellen Dorf, von dort aus ging sie in die Hauptstadt Asmara und viele Jahre später flüchtete sie vor dem Militärdienst und kam in die Schweiz. (Bild: Corinne Dufka / Reuters)

Wie Tausende andere verliess die Eritreerin Helen ihr Land, um dem endlosen Militärdienst zu entkommen. Sie erzählt ihre Geschichte, wie sie von einem Dorf im Süden Eritreas in die Hauptstadt kam und dann mit einer Schlepperorganisation in die Schweiz.

Es hallt in der Basler Markthalle. Kurze, energische Schreie einer Frau ertönen, der klackende Aufprall des Plastikballs auf der Tischplatte. Die Schreie kommen von Helen*, einer jungen Eritreerin. Die Markthalle ist das neue Winterquartier eines Tischtennisvereins, zu dem Helen gehört. Sie spielt gegen einen Koch, der ein guter Freund von ihr ist. 

Das Pingpong-Spielen ist mehr als nur Sport

Helen* ist 23 Jahre alt, wirkt aber reifer. Sie spricht ruhig und bedacht. Wenn man ihr eine Frage stellt, zögert sie nicht, bevor sie antwortet. Sie weiss, was sie will – etwa nicht fotografiert werden: «Ich will, dass meine Geschichte erzählt wird. Aber ein Foto von mir, da sage ich nein.» Momentan wird abgeklärt, ob und wann sie ihre definitiven Papiere erhält. Bis dahin ist sie sehr vorsichtig. «Es könnte zu viel davon abhängen.»

Schon als kleines Kind verliess sie ihre ländliche Familie und entschied sich für ein Leben in der eritreischen Hauptstadt Asmara. Vor etwas mehr als einem Jahr kam sie in die Schweiz – alleine. «Wenn du niemanden hast, der zu dir gehört, dann ist es umso wichtiger, deine Ziele klar im Auge zu behalten», sagt sie.

Helen begann kurz nach ihrer Ankunft in der Schweiz, Pingpong zu spielen. Seither ist sie richtig angefressen. 

«Beim Tischtennis vergesse ich, dass ich Asylbewerberin bin.»

Pingpong bedeutet für Helen mehr als nur Sport. «Wenn ich mit meinen Freunden spiele, vergesse ich mein ganzes Leben. Erst wenn ich wieder im Tram sitze und ins Asylheim fahre, merke ich: Oh Jesus, ich bin ja Asylbewerberin und habe gar nichts.» Ihre Miene wird mit einem Mal nachdenklicher.

«Wenn du einmal im Militär bist, dann ist dein Leben vorbei.» Das ist der Grund, weshalb die junge Frau ihr Heimatland hinter sich gelassen hat. In Eritrea muss jeder zwischen 18 und 48 Militärdienst leisten, offiziell dauert der Dienst 18 Monate, er wird aber häufig auf unbestimmte Zeit verlängert. Laut Amnesty International kommt der eritreische Militärdienst einer Versklavung des gesamten Volkes gleich. Der einzige Ausweg für Frauen aus dem Militär ist eine Schwangerschaft. «Im Militär hast du kein eigenes Leben, kriegst keinen Lohn und hast keine Rechte.»

Wie viele andere hat Helen ihr Land verlassen, kurz nachdem sie die obligatorische Schulzeit absolviert hatte. «Auf der Strasse führen Soldaten Kontrollen durch. Wenn du keinen Schülerausweis vorweisen kannst, wirst du eingezogen.»

«Wenn du einmal im Militär bist, dann ist dein Leben vorbei.»

Wenn man sich freiwillig meldet, kommt man in den «gewöhnlichen» Militärdienst. «Auch dort sind die Lebensumstände schrecklich. Man steht im Morgengrauen auf, muss extrem harte Arbeit leisten, haust in Zelten und kriegt nur Brot und Linsen zu essen.» Wenn man aber auf der Strasse als Dienstverweigerer erwischt wird, kommt man in ein Lager, in dem die Bedingungen noch viel schlimmer sind. «Du hörst all dies von Verwandten und Bekannten, und bist erschüttert», sagt Helen.

Für sie kam es nicht in Frage, Militärdienst zu leisten. «Es ist völlig absurd, du absolvierst eine gute schulische Bildung, bis dahin ist dein Leben in Ordnung. Und dann kommt das Militär. Alles, was du gelernt hast, verdampft, du wirst abgestumpft.»

Helen wurde in einem Dorf im Süden Eritreas geboren, ihre Mutter starb bei ihrer Geburt. Der Vater konnte oder wollte sich nicht um sie kümmern, ein Onkel mütterlicherseits nahm Helen zu sich in die Hauptstadt Asmara und meldete sie beim Bevölkerungsbüro an, unter seinem Namen anstatt dem des Vaters.

Der Vater begann plötzlich um sie zu kämpfen

Zwei Jahre lang lebte sie im Haus ihres Onkels, bis ihr biologischer Vater erfuhr, dass sie den Namen des Onkels trug. Da begann er plötzlich, um sie zu kämpfen. «Sein Stolz wurde geweckt, plötzlich interessierte er sich wieder für mich und wollte, dass ich ihn als Vater anerkannte und wieder zu ihm zog.» Der Fall kam vor Gericht, und der Vater gewann. «Es brach meinem Onkel das Herz, mich gehen zu lassen. Er ist Universitätsprofessor, Bildung ist für ihn das wichtigste Gut. Für ihn war klar: wenn ich wieder aufs Land ziehe, habe ich keine Chance auf gute Bildung.»

Beinahe wäre es auch so gekommen. Doch als sie fünf Jahre als war, änderte sich Helens Schicksal abrupt. Der Vater war als Händler selten zuhause, sie war viel mit ihrer Stiefmutter und ihren Halbgeschwistern alleine. Die leiblichen Kinder der neuen Frau wurden bevorzugt, manchmal sei sie ausgesperrt worden. Manchmal wurde Helen nicht einmal zum Schlafen reingeholt, und sie verbrachte die Nacht im Freien.

Eine dieser Nächte veränderte alles. Obwohl sie damals noch ein Kleinkind war, kann sie sich noch genau an den Moment erinnern, in dem sie ihr Schicksal in die eigenen Hände nahm. Ihre Schilderungen sind präzise wie ein Film.

«Es brach meinem Onkel das Herz, mich gehen zu lassen.»

Sie lag auf dem Boden vor dem Haus und weinte sich in den Schlaf, als ein Bus näher kam. «Asmara» hiess es auf einem Schild in der Windschutzscheibe. Asmara, las das kleine Mädchen, und dachte: Ich kann zu meinem Vater fahren. Sie baute sich vor dem Bus auf, breitete die Arme aus, der Fahrer hupte, doch sie ging nicht aus dem Weg, das tränenüberströmte Gesicht vom Scheinwerferlicht erhellt. Der Buschauffeur stieg aus, fragte sie, was das sollte. «Bring mich nach Asmara zu meinem Vater», antwortete Helen, denn der Vater, das war für sie nach wie vor der Onkel. «Der Busfahrer wollte erst nicht, als ich beharrlich blieb, testete er meine Kenntnis der Hauptstadt, um zu prüfen, ob ich log.»

Als sie die wichtigen Plätze und Strassen nennen konnte, nahm er sie mit. Er putzte ihr Gesicht, gab ihr zu essen und zu trinken, und fuhr sie bis zu ihrem Onkel vor die Tür. «Über diese Nacht zu sprechen, in der ich weinend einen Bus anhielt, ist immer noch sehr schwer für mich, es ist sehr emotional», sagt Helen sichtlich berührt.

Es ist nicht nur der Zeitpunkt, in dem sie sich gegen ein Leben bei ihrer lieblosen Stiefmutter entschied – es ist auch der Moment, in dem sie das traditionelle Dorfleben hinter sich liess, und ein modernes Leben wählte. «Entweder du akzeptierst die traditionelle Kultur mit all ihren negativen und positiven Aspekten, dann wirst du früh verheiratet und hast keine Chance auf Bildung. Oder du rebellierst gegen deine Wurzeln, und lässt alles hinter dir, wie ich es gemacht habe. Es gibt kein Dazwischen.»

Im Waisenhaus fand sie ein Zuhause

Der Onkel habe laut aufgeschrien, als er sie sah. «Es war eine Mischung aus Freude und Entsetzen. Er hatte Angst vor meinem Vater und der Polizei, mein Vater hatte ja vor Gericht gewonnen.» So gross die Freude über das Wiedersehen auch war, sie konnte nicht beim Onkel bleiben.

Er brachte Helen in ein katholisches Waisenhaus. Dort fand sie ein liebevolles Zuhause. «Die Nonnen und die anderen Bewohnerinnen wurden zu meiner ersten richtigen Familie.» Sie blieb dort, bis sie 15 Jahre alt war, zog dann in eine eigene Wohnung und absolvierte die Schule. «Ich war eine wahnsinnig gute Schülerin», erzählt sie mit Stolz.

«Entweder du akzeptierst alles oder du rebellierst. Es gibt kein Dazwischen»

Als sie mit der Schule fertig war, drohte der Militärdienstantritt. Helen gab ihre Wohnung auf und zog wieder zu den Nonnen ins Waisenhaus, wo sie sich besser vor den Soldaten verstecken konnte. Über ein Jahr lang lebte sie in der ständigen Angst, von Soldaten kontrolliert und eingezogen zu werden. «In dieser Zeit verliess ich das Heim kaum, ich half den Schwestern beim Pflegen der Kinder, und beim Kochen. Mir war nicht langweilig, und die Schwestern haben mich behandelt wie eine Prinzessin, ich kriegte ein eigenes Zimmer mit Bad. Aber diese ständige Angst, und die Aussichtslosigkeit, was als nächstes kommen würde – das war kein Leben.»

Trotz der mütterlichen Fürsorge der Nonnen entschied sich Helen also, das Land zu verlassen. «Gegen die Jahrtausendwende hörte man von immer mehr Leuten, die nach Europa, Amerika oder in benachbarte Länder flüchteten. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass es mich selbst treffen könnte.» 

Helen entschied sich für die Flucht

Der einzige Weg, der aus dem Land führt, ist illegal. «Die Organisationen, die Eritreer ins Ausland befördern, sind eine Riesenmafia.» Alles läuft über Mund-zu-Mund-Propaganda. Wenn man von jemandem hört, der es zum Beispiel bis nach Europa geschafft hat, fragt man nach der Nummer der Schlepperorganisation. Jemand muss für einen bürgen, in Helens Fall war dies das Waisenhaus. Bezahlt wird erst im Nachhinein, wenn der Flüchtling sicher angekommen ist. Ihre Flucht kostete das Waisenhaus zirka 20’000 Franken. «Als ich mich bereit machte, dachte ich: Das ist entweder das Ende oder der Anfang von meinem Leben.»

Die Grenze zu Äthiopien galt damals als die sicherste, sie überquerte sie mit einem Schlepper, danach liefen sie zwei Tage lang, bis sie ein Flüchtlingscamp erreichten. Sie wartete auf Papiere, um in die USA zu gelangen, doch es gab Probleme, und sie beschloss, eine andere Destination zu bevorzugen. Sie flog in eine deutsche Stadt, von dort aus ging die Reise streckenweise mit dem Zug, streckenweise mit dem Auto weiter. Die ganze Reise wurde von Angehörigen des Schleppernetzwerks begleitet. Schliesslich erreichte sie die Schweiz.

«Man hat drei Aussichten: Ins Militär, sich ein Leben lang verstecken, oder auswandern.»

Helen ist seit knapp eineinhalb Jahren hier. Es hätte sie schlimmer treffen können. Dessen ist sie sich bewusst. Und doch hat es geschmerzt, alles hinter sich zu lassen. «Solange sich nichts verändert in der Regierung, kann ich keinen Fuss in mein Heimatland setzen. Ich würde sonst eingesperrt.»

Im Asylheim hat Helen viele eritreische Mitbewohnerinnen, zum Teil haben sie Kinder. «Ich geniesse es manchmal, eritreische Leute um mich zu haben und meine Muttersprache Tigrinya zu sprechen.» Doch manchmal deprimiert es sie auch, denn die Gespräche drehen sich immer um die selben Themen. «Sie sind alle in der gleichen Situation wie ich, wir reden nur über Papiere und darüber, wie es weitergehen könnte.»

Das Auswandern ist das «Thema Nummer eins»

Auch mit anderen Freundinnen und Freunden aus Eritrea steht Helen in regelmässigem Skype-Kontakt. Viele von ihnen sind ebenfalls bereits irgendwo auf der Welt, andere sind noch im Land. «Das Auswandern ist bei unseren Telefonaten das Thema Nummer eins.» Jedes Mal erfährt sie von weiteren Bekannten, die sich für die Flucht entschieden haben. «Das Land leert sich, die junge Generation wandert in die ganze Welt aus. Es gibt in Eritrea keine Zukunft für uns.»

Manchmal irritiert es Helen, Migrantin zu sein. «Ich habe ein Mutterland, eine Geschichte, eine Familie und eine Herkunft. Aber hier gehöre ich zu niemandem. Alles ist neu für mich, und ich bin neu für euch.»

Was die Zukunft angeht, ist sie optimistisch. «Wenn ich erst einmal gültige Papiere habe, kann ich hier noch viel erreichen. Zuallererst will ich arbeiten, um unabhängig zu sein, und dann eine Ausbildung absolvieren.» Wenn sie von ihren Plänen erzählt, hat sie ein ungeduldiges Leuchten in den Augen, voller Vorfreude. Und mit einem Mal nimmt man ihr das jugendliche Alter ab, das durch die Schwere ihrer Geschichte unglaubwürdig schien.

Helen wollte früher Ärztin werden, und vor allem Frauen und Kindern auf dem Land helfen, wo die medizinische Versorgung schlecht ist. Heute hat sie diesen Traum vorerst begraben. Dafür hat sie einen neuen: «Ich will ein Hilfswerk aufbauen, um Geld in mein Waisenhaus zu schicken. Die Leute dort haben so viel für mich getan, sie haben meine Reise hierher bezahlt. Ich möchte irgendwann etwas zurückgeben können.»

__

*Name geändert

Nächster Artikel