«Es gibt keine chinesische Kunstszene»

Die Londoner Ausstellung «Art of Change: New Directions from China» stellt aktuelle Kunst aus China vor. Doch das Gezeigte ist so zeitgenössisch wie Schweinefleisch süss-sauer.

Xu Zhens Arbeit «In Just a Blink of an Eye» in der Hayward Gallery: Chinesisch, ja, aber auch kritisch? Nein, schreibt Ai Weiwei in seinem Essay. (Bild: Foto: Linda Nylind/© Xu Zhen)

Die Londoner Ausstellung «Art of Change: New Directions from China» stellt aktuelle Kunst aus China vor. Doch das Gezeigte ist so zeitgenössisch wie Schweinefleisch süss-sauer.

Was soll man von einer Ausstellung halten, die den Namen «Art of Change: New Directions from China» trägt? Ich glaube nicht, dass es sich lohnt, in Zusammenhang mit der chinesischen Kunst über neue Strömungen zu diskutieren, denn es gab auch keine alten – die chinesische Kunst hatte noch nie irgendeine eindeutige Orientierung. Ja, die Künstler, die zurzeit in der Londoner Hayward-Galerie zu sehen sind, haben heftiger als andere mit den Beschränkungen gerungen, die ihnen der chinesische Staat auferlegt hat. Das aber ändert nichts daran, dass es sich nur um einen weiteren Versuch handelt, ein westliches Publikum mit der sogenannten zeitgenössischen chinesischen Kunst bekannt zu machen. Wie aber kann man eine Ausstellung über «zeitgenössische chinesische Kunst» kuratieren, in der kein einziges der drängendsten zeitgenössischen Probleme des Landes angesprochen wird?

Ich kenne die Arbeiten der meisten in der Ausstellung vertretenen Künstler sehr gut. Ihre Arbeiten sind sicherlich chinesisch, aber in der gesamten Ausstellung findet sich kein einziger kritischer Blick. Sie gleicht mehr einem Restaurant in Chinatown, wo alle typischen Gerichte auf der Karte stehen: Kung-Pao-Hühnchen und Schweinefleisch süss-sauer. Die Leute essen es und sagen: Ja, das ist chinesisch, aber es ist nichts als ein Konsumangebot, das mit dem, wie die Menschen heute in China leben, sehr wenig zu tun hat.

Pure Heuchelei

Die weitreichende staatliche Kontrolle über Kunst und Kultur hat in diesem Land keinen Raum für die Freiheit der Meinungsäusserung gelassen. Seit mehr als 60 Jahren werden Menschen mit einer abweichenden Meinung unterdrückt. Chinesische Kunst ist nichts weiter als ein Produkt: Sie vermeidet jedes nennenswerte Engagement. Es gibt keinen grösseren Kontext. Ihr einziger Zweck besteht darin, den Betrachter mit ihrer Ambivalenz zu bezaubern.

Die chinesische Kunstwelt existiert nicht. In einer Gesellschaft, die die Freiheiten des Einzelnen beschneidet und die Menschenrechte verletzt, ist alles, was sich kreativ oder unabhängig nennt, pure Heuchelei. Es ist einer totalitären Gesellschaft nicht möglich, etwas mit Leidenschaft und Fantasie zu erschaffen.

China ist eine alte Nation mit einer farbenfrohen Geschichte. Seine boomende Wirtschaft hat im Rest der Welt ein immer weiter wachsendes Interesse an der Kunst und Kultur des Landes geweckt. Doch in dieser Show fehlen die Akteure. Die chinesische Regierung gibt Milliarden für kulturellen Austausch mit dem Westen aus, um sich als zivilisierte Nation zu präsentieren. Dabei handelt es sich lediglich um oberflächliche Gesten, die sich von Maos Pingpong-Diplomatie in den Siebzigern in nichts unterscheiden. Damals wurden amerikanische Tischtennisspieler zu Freundschaftsspielen eingeladen, um irgendeine Art von politischer Beziehung zu ermöglichen. In gleicher Absicht wurden zur Festigung der diplomatischen Beziehungen riesige Pandas an verschiedene Länder verschenkt.

Beleidigung der Intelligenz

Im vergangenen Jahr platzierte China seine Propaganda direkt auf dem New Yorker Times Square. Auf grossen Leinwänden waren Kampfsportstar Jackie Chan, Basketballer Yao Ming, Astronaut Yang Liwei sowie die Pianisten Lang Lang und Li Yundi zu sehen. Währenddessen breiten sich Konfuzius-Institute zur Förderung der chinesischen Kultur ebenso auf der ganzen Welt aus wie chinesische Wanderakrobaten. Ich empfinde sie als Beleidigung der menschlichen Intelligenz und eine Verhöhnung der Idee der Kultur – Propaganda-Instrumente, die Kenntnisse zur Schau stellen, die jeglicher Sub­stanz entbehren, und Fertigkeiten, die keine Bedeutung haben.

Obwohl die chinesische Kunst stark von der zeitgenössischen westlichen Kultur beeinflusst ist, lehnt sie die grundlegenden menschlichen Werte ab, auf die jene sich stützt. Die KP Chinas behauptet, sie arbeite an einem Sozialismus mit chinesischer Prägung, aber niemand versteht, was das bedeutet – auch nicht die Menschen in China. In Anbetracht dessen und ihres Mangels an Selbst-Identität gibt es keinen Grund, warum man von Werken, die im Westen entstanden sind, eine Schau erwarten sollte, die das System wirkungsvoll kritisieren könnte.

Eine Ausstellung aber, die keine Rücksicht auf die Nöte und Kämpfe der Menschen und das Bedürfnis der Künstler, sich ehrlich ausdrücken zu können, nimmt, wird unweigerlich zu den falschen Ergebnissen führen. Jeder kulturelle Austausch bleibt unecht, wenn er jeden kritischen Inhalts entbehrt. Es bedarf einer offenen Diskussion, einer Plattform für Auseinandersetzungen. Kunst muss für etwas stehen.

  • Guardian News & Media Ltd. 2012, Übersetzung: Holger Hutt 

Ai Weiwei

(Bild: Wolf/laif)

Seit Frühling 2011 kennt ihn die ganze Welt: Damals wurde der chinesische Künstler und Regimekritiker Ai Weiwei von den Behörden verhaftet und an unbekanntem Ort festgehalten, was ausserhalb Chinas zu grossen Protesten führte. 81 Tage später kam er frei. Seither steht er unter Hausarrest, was ihn nicht davon abhält, die Zensur und Politik seines Landes scharf zu kritisieren, wie sein Essay zeigt. Warum Meinungsfreiheit für ihn das höchste Gut ist und er trotz Repressionen weiterkämpft, ist auch im sehenswerten Dokfilm «Ai Weiwei – Never Sorry» von Alison Klayman (Filmkritik) zu sehen, der aktuell im Kino läuft. kng

Quellen

Guardian News & Media Ltd. 2012, Übersetzung: Holger Hutt 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.09.12

Nächster Artikel