Es gibt nicht zu viele Volksinitiativen

Jetzt lässt es sich auch mit Zahlen belegen: Das Problem der schweizerischen direkten Demokratie ist weniger quantitativer, sondern qualitativer Art.

The Federal Palace and Federal Square in Berne, Switzerland, pictured on July 16, 2012. (KEYSTONE/Gaetan Bally) Das Bundeshaus und der Bundesplatz in Bern, aufgenommen 16. Juli 2012. (KEYSTONE/Gaetan Bally)

(Bild: GAETAN BALLY)

Jetzt lässt es sich auch mit Zahlen belegen: Das Problem der schweizerischen direkten Demokratie ist weniger quantitativer, sondern qualitativer Art.

Das Reden von der «Initiativenflut» gehört in Bundesbern zum guten Ton. Es hat sich gleichsam eingebürgert in den vergangenen Jahren. Das Parlament werde «überschwemmt» von Volksinitiativen, heisst es, die Parteien würden sie «missbrauchen», Bundesrat und Parlament bliebe keine Zeit mehr für Wesentlicheres. Und wer so redet, der weiss auch gleich, was zu tun ist: das Unterschriftensammeln erschweren, die notwendigen Unterschriftenzahlen erhöhen, das verbindliche Initiativrecht zu einem unverbindlichen Antragsrecht kastrieren. Kurzum: die Einflussmöglichkeiten engagierter Bürgerinnen und Bürger zurückbinden, gleichsam die repräsentative «Autonomie» des Bundeshauses stärken.

Solche Momente sind nicht neu. Bereits Mitte der 1930er-Jahre erklärte der Bundesrat, es gebe zu viele Volksinitiativen. 1933 waren inmitten der grössten Wirtschaftskrise erstmals sechs statt der seit 1891 jährlich maximal bloss drei Volksinitiativen lanciert worden. Anfang der 1970er-Jahre – die 68er hatten die Volksrechte entdeckt und begannen, sie für die Modernisierung der Gesellschaft, für den ökologischen Umbau und die Gleichberechtigung der Frauen zu nutzen – waren es durchschnittlich sechs pro Jahr, und wieder prägte Bundesrat Kurt Furgler einen Abbau-Begriff: Er sprach von der Notwendigkeit, die Demokratie zu «verwesentlichen». Als ob es nicht zur Freiheit und zur Demokratie gehörte, Unterschiedliches als «wesentlich» zu empfinden und auf die öffentliche, politische Tagesordnung stellen zu wollen. Furglers Antrag, die für Volksinitiativen und Referenden notwendigen Unterschriftenzahlen zu verdoppeln, hatte freilich auch eine objektive Basis: Mit der Einführung des Frauenstimmrechts hatte sich die Zahl der Stimmberechtigten etwas mehr als verdoppelt. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger stimmte 1977 Bundesrat Furglers Vorschlag zu.

Viele scheitern an den Unterschriften

Doch nach einem kurzen Einbruch wurden aus den initiativen Spitzenwerten der 1970er-Jahre die Durchschnittszahlen der 1980er- und 1990er-Jahre: Fast zehn Volksinitiativen wurden nun jährlich lanciert. Und es war Bundesrat Koller, der sich von diesen Zahlen blenden liess und sie zum Anlass nahm, die Mitbestimmungsmöglichkeiten schmälern zu wollen. Glücklicherweise scheiterte er damit schon im Parlament.

Koller beging den gleichen Doppelfehler wie jetzt wieder all jene, die von der «Flut» reden und glauben, wie die Axt im Unterholz der direkten Demokratie wüten zu müssen. Die Zahl der Volksinitiativen ist nicht biologischer Natur, sondern Ausdruck der von einigen als ungelöst erachteten gesellschaftlichen Nöte und Probleme; der politischen Schwierigkeit, Kompromisse zu finden, die ausreichend befriedigen, sowie des gesellschaftlichen Bedarfs an Reformen und neuen Perspektiven, die im Umfeld des Bundeshauses zu wenig zur Sprache kommen und deshalb von aussen in den politischen Betrieb eingespeist werden müssen.

Ausserdem wird übersehen, dass im Unterschied zu den ersten 90 Jahren der Geschichte der direkten Demokratie heute viel mehr lancierte Volksinitiativen an der Unterschriftensammel-Hürde scheitern und somit den Bundesrat und das Parlament gar nie beschäftigen. Seit den 1960er-Jahren wagen sich viel mehr Einzelpersonen und Bürgergruppen, die sich ausschliesslich wegen ihrer Sache zusammenfinden, an eine Volksinitiative. In den vergangenen 15 Jahren auch beflügelt durch Vollerfolge, die einige unter ihnen erleben durften. Beide unterschätzen aber immer noch oft die organisatorischen und kommunikativen Probleme, die  es dabei zu meistern gilt, bereiten sich doch zu wenige umsichtig vor, wollen zu schnell lancieren und scheitern dann trotz aller neuen elektronischen Mittel an der nicht zu unterschätzenden Hürde, innert 18 Monaten 100’000 gültige Unterschriften zu sammeln.

Der Fiebermesser ist nicht schuld

In den vergangenen 12 Jahren (2003–2015) wurden insgesamt nicht mehr Volksinitiativen eingereicht als in den drei Legislaturperioden zuvor (1991–2003). Vor allem aber sind 2013 und 2014 mit je zehn lancierten Volksinitiativen noch nie so viele gescheitert und haben die notwendigen Unterschriften in der gebotenen Frist nicht zusammengebracht. Schliesslich  hat auch das gegenwärtige Wahljahr weniger Initiativen provoziert als früher – es dürften 2015 etwa halb so viele werden wie 2014. Von den Parteien 2015 wählten nur die SVP, die Grünen und die Juso wieder dieses Agitations-Instrument. An der Unterschriftenhürde gescheitert ist 2015 bereits auch wieder eine Initiative, es dürfte nicht die letzte gewesen sein dieses Jahr.

Fazit: Von «Initiativenflut» oder direktdemokratischen «Überschwemmungen» – wir bewegen uns seit einiger Zeit unter dem Durchschnitt der vergangenen drei Jahrzehnte – kann keine Rede sein. Die Probleme der Schweiz mit den Volksrechten sind nicht quantitativer, sondern qualitativer Natur. Um diese abzubauen, bedarf es weder einer Axt noch sonstiger Grobheiten, sondern feiner und präziser verfassungs-, steuer-, medien- und bildungspolitischer Reformen. Und bitte vergessen Sie nicht: Der Fiebermesser ist nicht verantwortlich für die Temperatur, die er anzeigt, ebenso wenig wie der Spiegel für das Gesicht, das er Ihnen jeden Tag zeigt. Sie können den Fiebermesser vergröbern, den Spiegel zerstören: Die Krankheiten müssen Sie dennoch anders und klüger behandeln, um wieder zu gesunden.

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