Es grünt im Süden

Die Grünen wollen es wissen: Sie kämpfen in Baden-Württemberg bei der Wahl in den Bundestag um Direktmandate.

Düstere Aussichten für die CDU: Die Grünen sind in Baden-Württemberg auch im Milieu der «Häusle»-Bauer angekommen und wollen nach den Wahlen im Herbst mit Direktmandaten in den Bundestag einziehen. (Bild: Keystone)

Die Grünen wollen es wissen: Sie kämpfen in Baden-Württemberg bei der Wahl in den Bundestag um Direktmandate.

In Baden-Württemberg fühlen sich die Grünen im Aufwind. Sie sind die stärkste Fraktion im Landesparlament und stellen in der Person von Winfried Kretsch­mann den Ministerpräsidenten. In ihrem Stammland – der erfolgreiche Kampf gegen das Atomkraftwerk Wyhl begründete die Umweltbewegung in Deutschland – sind sie offensichtlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Grüne wollen die Ernte einfahren

Die Ernte wollen sie diesen Herbst einfahren, bei der Bundestagswahl am 22. September. Da sollen nicht nur möglichst viele Abgeordnete über die Landesliste aus Baden-Württemberg nach Berlin geschickt werden. Die Grünen kämpfen in ihren Hochburgen auch erstmals ernsthaft um Direktmandate (zum Wahlsystem, siehe Box unten).

2009 hat die CDU fast alle der baden-württembergischen Wahlkreise gewonnen. Die SPD holte nur ein einziges der insgesamt 38 Direktmandate, in Freiburg mit dem ehemaligen Staatsminister im Aussenministerium Gernot Erler. Dort könnte nun aber der Angriff der grünen Spitzenkandidatin Kerstin Andreae dafür sorgen, dass der CDU-Kandidat Matern von Marschall als lachender Dritter auch noch das allerletzte Direktmandat für die Union gewinnt.

Die Partei-Prominenz tritt an

Aus Sicht der Grünen ist Freiburg ein guter Ort, um den Angriff auf ein Direktmandat zu wagen: Seit elf Jahren regiert hier der grüne Oberbürgermeister Dieter Salomon, der erste Grüne an der Spitze einer Grossstadt in Deutschland, im Stadtrat stellen die Grünen die grösste Fraktion. Bei den Bundestagswahlen 2002 und 2005 hat Andreae ihren Wählern empfohlen, mit der Erststimme den SPD-Kandidaten zu wählen und mit der Zweitstimme die Grünen. Das hat Erler eine satte Mehrheit gesichert.

2009 allerdings hat sie darauf verzichtet: Die SPD regierte damals mit der Union in einer Grossen Koalition. Erler siegte trotzdem, aber nur noch mit knappem Vorsprung. Nach den Prognosen für die Wahl im September könnte eine Grosse Koalition auch diesmal wahrscheinlich werden. «Ich könnte meiner Wählerschaft nicht erklären, eine Wahlempfehlung für Gernot Erler abzugeben», stellt Andreae fest.

Erler weiss um die Gefahr: «Jede Bewegung weg von meinen 33 Prozent von 2009 macht den CDU-Kandidaten zum Sieger, trotz rot-grüner Mehrheit im Wahlkreis.» Gleichwohl verbreitet er Zuversicht. Nach vier Siegen hintereinander gibt es keinen Grund für Zweifel. «Ich kämpfe um jede Stimme», sagt er.

Der schwule CDU-Kandidat will bei Links-Grün punkten.

Der CDU-Mann von Marschall ist ebenfalls guten Mutes. Er weiss, dass er von der rot-grünen Rivalität profitiert. Zudem: Der Wahlkreis umfasst nicht nur die links-grün geprägte Stadt Freiburg, sondern auch eine Reihe kleiner Umlandgemeinden, deren Wähler traditionell eher der CDU zuneigen. «Am Ende werden die drei Direktkandidaten sehr nahe beieinander liegen», schätzt von Marschall. Die Entscheidung werde «ausserordentlich spannend».

Spannung verspricht auch der Wahlkampf in Stuttgart. In der Landeshauptstadt, geprägt von der Autoindustrie um Daimler und Porsche, hat im vergangenen Herbst der altgediente Grüne Fritz Kuhn die Oberbürgermeisterwahl gewonnen. Die CDU war geschockt, sie hatte die dramatische Erosion ihrer Macht nicht für möglich gehalten.

In Stuttgart tritt nun der Grünen-Parteichef Cem Özdemir als Direktkandidat zur Bundestagswahl an. Auch SPD und CDU schicken Prominenz: Für die Sozialdemokraten tritt die ehemalige Landesvorsitzende Ute Vogt an, der indes nur Aussenseiterchancen eingeräumt werden. Für die CDU geht Stefan Kaufmann ins Rennen, der schon 2009 den Wahlkreis für sich entschieden hat. Als erster bekennender schwuler Bundestagsabgeordneter der CDU traut er sich zu, auch im aufgeschlossenen links-grünen Wählermilieu zu punkten.

Die 44-jährige Kerstin Andreae ist eine der Vorzeigefrauen der Bundesgrünen.

Für Erler, Andreae, Vogt und Özdemir bedeutet das Direktmandat eine reine Prestigefrage. Sie stehen weit vorne auf den Landeslisten ihrer Parteien und ziehen deshalb sicher in den Bundestag ein. Ein Sieg im Wahlkreis allerdings würde ihnen in der Fraktion in Berlin einen ungleich stärkeren Rückhalt verschaffen. Erler ist zwar schon 69 Jahre alt und muss eigentlich nichts mehr beweisen. Doch er ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender und aussenpolitischer Sprecher seiner Partei. Die Ämter würde er gerne behalten.

Die 44-jährige Kerstin Andreae ist eine der Vorzeigefrauen der Bundesgrünen. Vom Polit-Magazin «Cicero» wird sie parteiübergreifend zu den zehn Abgeordneten gezählt, die in den kommenden vier Jahren in der deutschen Politik eine grössere Rolle spielen werden. Als Mutter dreier Kinder ist sie ein Vorbild für viele junge Frauen, die Karriere und Familie unter einen Hut bringen wollen. Mit einem Direktmandat hätte sie noch mehr Schwung, wenn es in den kommenden Jahren um die Nachfolge der aktuellen Parteispitze um Jürgen Trittin und Claudia Roth geht.

Endlich mehr Rückhalt könnte auch Cem Özdemir gebrauchen. Er hat noch eine Rechnung mit seiner Partei offen. Seine Grünen haben ihm 2009 einen Spitzenplatz auf der Landesliste verweigert, was Özdemir die Ausübung seines Amtes als Bundesparteichef erheblich erschwert hat.

Endspurt mit Schwergewichten

Schwieriger wird es für die CDU-Kandidaten. Zwar haben auch Matern von Marschall und Stefan Kaufmann vordere Plätze auf der Liste der baden-württembergischen CDU. Doch die nützen ihnen nichts, wenn die CDU, wie 2009, 37 von 38 Direktmandaten gewinnt und damit mehr Sitze, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustünden. Ohne Direktmandat bliebe ihnen ein Sitz im Bundestag verwehrt.

Wie ernst die Auseinandersetzung um das Direktmandat in den Parteien genommen wird – oder wie sicher sich diese fühlen –, zeigt die Unterstützung der Kandidaten durch Partei-Schwergewichte. SPD und CDU schicken eher die zweite Garde: Zu Gernot Erler nach Freiburg kommt Frank-Walter Steinmeier, der Verlierer der Wahl von 2009. Kanzlerkandidat Peer Steinbrück und Parteichef Sigmar Gabriel stehen derzeit nicht auf der Liste. Die CDU schickt Finanzminister Wolfgang Schäuble und Fraktionschef Volker Kauder – Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich noch nicht angekündigt.

Anders sieht es bei den Grünen aus: Die Spitzenkandidaten Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt kommen nach Freiburg und im Endspurt werden auch die Parteivorsitzende Claudia Roth und Deutschlands einziger grüner Minister-präsident Winfried Kretschmann Unterstützung liefern. Den Grünen ist wirklich Ernst mit dem Kampf um das Direktmandat.

Kompliziertes Wahlsystem
Am 22. September wählen die Deutschen einen neuen Bundestag. Deutschland wird dazu in 299 von der Bevölkerungsanzahl her annähernd gleich grosse Wahlkreise eingeteilt. Aus jedem dieser Wahlkreise wird ein Kandidat mit der Erststimme direkt in den Bundestag gewählt.
Dazu kommen noch einmal 299 Abgeordnete, die mit der Zweitstimme über die Listen der Parteien in den Bundesländern gewählt werden, für jedes Bundesland so viele, wie es Wahlkreise hat.
Für die Anzahl der Mandate jeder Partei ist deren Zweitstimmenanteil im jeweiligen Bundesland ausschlaggebend. Weil aber in einigen Ländern eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil zustehen, bekommt sie sogenannte Überhangmandate.
Baden-Württemberg zum Beispiel hat Anspruch auf 76 Bundestagsmandate, 38 direkt in den Wahlkreisen gewählte und 38 über die Landeslisten der Parteien. 2009 holte die CDU 37 Direktmandate, bekam aber nur 34,4 Prozent der Zweitstimmen. Danach hätten der CDU nur 26 Sitze im Bundestag zugestanden. Die anderen Parteien bekamen ihre Sitze exakt gemäss Zweitstimmen-­Anteil, die CDU erhielt also elf Überhangmandate.
Darum zogen nicht 76 Baden-Württemberger ins Berliner Parlament, sondern – nein, nicht 87, es waren 84. Die fehlenden drei Mandate entsprechen dem Wähleranteil von Kleinparteien, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten.Die Praxis der Überhangmandate verschob die Mehrheiten im Bundestag. Damit die Parteien ohne Überhangmandate nicht länger benachteiligt werden, erhalten sie neu sogenannte Ausgleichsmandate.
Das Bundesverfassungsgericht hatte das alte Modell als verfassungswidrig eingestuft. 2009 zogen inklusive Überhangmandaten 622 Abgeordnete in den Bundestag. Wäre die neue Regelung mit Ausgleichsmandaten damals schon in Kraft gewesen, hätte es mit 671 Abgeordneten ein ziemliches Gedränge gegeben.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09.08.13

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