Der italienische Kriminologe und Buchautor Andrea Di Nicola über das menschenverachtende Geschäft der Schlepper und die Fehler der EU im Umgang mit den Flüchtlingsströmen.
Zeltstädte für Asylbewerber, Proteste gegen Immigranten: Das sind Reaktionen am Ende der Flucht. An deren Beginn sind die Flüchtlinge auf Schlepper angewiesen. Die EU hat versprochen, die Schleuser-Kriminalität zu bekämpfen. Aber wie? Der Kriminologe Andrea Di Nicola hat jahrelang über die Mechanismen und die Hintermänner des Geschäfts mit den Migranten recherchiert.
Herr Di Nicola, wer steckt hinter den den kriminellen Organisationen, die die Flüchtlinge nach Europa schleusen?
Andrea Di Nicola
Das sind knallharte Geschäftsmänner, die in einem gigantischen Netzwerk zusammen arbeiten und ihre Vertreter selbst in den abgelegensten Gegenden der Welt haben. Sie sind untereinander extrem gut vernetzt und haben einen ausgeprägten Sinn fürs Geschäft.
Muss man sich das wie eine Art Mafia vorstellen?
Nein. Das sind organisierte Kriminelle, aber keine Mafiosi. Jeder arbeitet auf seinem Reiseabschnitt, ist sozusagen spezialisiert auf einen Teil des Angebots. Es handelt sich um das grösste illegale Reisebüro der Welt mit verschiedenen, ausgelagerten Unternehmenszweigen.
Es gibt Low-Cost-Überfahrten über das Mittelmeer, die organisierte Flugreise aus China, die Beschaffung falscher Pässe.»
Was für Zweige zum Beispiel?
Da gibt es die Low-Cost-Überfahrten über das Mittelmeer, die organisierte Flugreise aus China, die Beschaffung falscher Pässe. Es gibt Spezialisten, die zum Beispiel ausschliesslich Afghanen nach Grossbritannien schleusen oder Einzeltäter wie einen Pakistani, der sich auf die Bestechung von Unternehmern in Italien spezialisierte. Die stellten gegen Bezahlung Arbeitsvisa aus.
Wer sind die Hintermänner dieser Organisationen?
Bei unseren Recherchen habe ich zum Beispiel in Kairo einen Ägypter namens El Douly kennen gelernt. Er operiert nur in Ägypten und hat eine ganze Reihe von Agenten im Süden des Landes. Dort kommen Flüchtlinge mit Hilfe anderer Netzwerke an. El Douly und seine Leute sorgen dann dafür, dass die Migranten über die Grenze nach Libyen gelangen. Dort werden sie dem nächsten Schlepper-Ring anvertraut, mit dem sie dann über das Mittelmeer kommen. Diejenigen, die die überfüllten Boote übers Mittelmeer steuern, sind kleine Fische. Da kann man Tausende verhaften und es passiert nichts. Entscheidend sind die Personen, die das Netzwerk zusammen halten.
Wie viel Geld verdienen die Schleuser mit den Flüchtlingen?
Nach Angaben der Weltorganisation für Migration machen Schleuser weltweit einen Jahresumsatz von drei bis zehn Milliarden Dollar. Sehr vorsichtig geschätzt verdienen die Schleuser allein im Mittelmeer jährlich etwa 80 Millionen Dollar.
Wie sind die Tarife auf den Flüchtlingsrouten?
1000 Dollar ist der Standardpreis für die Überfahrt von Libyen nach Italien. Ein Syrer, der über die Türkei nach Europa kommt, zahlt zwischen 6000 und 7000 Dollar. In Afrika südlich der Sahara wird in einzelnen Tranchen von 500 bis 1000 Dollar für jede Etappe, jeden illegalen Grenzübertritt gezahlt. Die gesamte Reise nach Europa kostet einen afrikanischen Flüchtling mindestens 5000 Dollar.
«Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Geld auch in die Finanzierung des Terrorismus fliesst.»
Was machen die Schlepper-Netzwerke mit dem Geld?
Manche investieren in andere illegale Geschäfte wie Drogen oder Waffen. El Douly hat Restaurants und Geschäfte, der kurdische Schlepperboss Küçük soll 100 Wohnungen irgendwo an der türkischen Küste gebaut haben und ein türkisches Pharma-Unternehmen kontrollieren. Das Geld wird reinvestiert, etwa zur Bestechung von Grenzbeamten. Was die Schlepper in Libyen angeht, ist es sehr wahrscheinlich, dass das Geld auch in die Finanzierung des Terrorismus fliesst.
Welche strategische Bedeutung hat das zerfallende Libyen für die Schleuser?
Libyen ist ein neuralgischer Punkt. Aber stellen wir uns vor, wir könnten Libyen aus der Landkarte einfach heraus schneiden und das Schlepper-Problem dort so beseitigen. Es würde nichts nützen. Die Schleuser überlegen 24 Stunden am Tag, wie sie Europa stürmen können und sind rasend schnell. Es ist wie bei einem Fluss. Wenn man einen Damm baut, sucht sich das Wasser einen neuen Weg. Während wir uns über das Mittelmeer Gedanken machen, kommen haufenweise Menschen über den Balkan nach Europa. 100 000 Menschen im Jahr.
«Je mehr wir uns abschirmen, desto mehr Tote wird es geben.»
Bedeutet das, dass die Bekämpfung der Schleuser, wie sie derzeit aussieht, ihnen eigentlich in die Karten spielt?
Ein ukrainischer Schleuser, der in Italien im Gefängnis sitzt, sagte uns: «Ihr werdet den Flüchtlingsstrom nie abschneiden können. Ich bin wie Moses, der erste Schleuser der Menschheitsgeschichte. Wenn ihr Fluchtwege abschneidet, spielt ihr nur unser Spiel. Denn wir werden neue finden. Ihr zieht die Mauern um die Festung Europa höher? Wir erhöhen die Preise.» Je mehr wir uns abschirmen, desto mehr Tote wird es geben und desto mehr Flüchtlinge werden die illegale Einreise riskieren.
Was ist also zu tun?
Europaweit müssten die Ermittler viel mehr zusammen arbeiten, sich mehr austauschen. Wir brauchen einheitliche, strenge Gesetze, Datenbanken. Die EU müsste sich so gut koordinieren, wie es die Schleuser tun. Wir müssen gegenüber Staaten wie der Türkei, Ägypten, Niger oder Tunesien als Gemeinschaft auftreten und die polizeiliche Zusammenarbeit ausweiten. Wir brauchen eine neue, europaweit einheitliche Flüchtlingspolitik.
«Die Länder der EU sind langsam, misstrauen sich und sind in Egoismen verhaftet.»
Wäre es sinnvoll, dass Asylanträge schon vor der Überfahrt nach Europa gestellt werden können?
Das wäre sehr wichtig. Denkbar ist so etwas auch in stabilen Ländern wie Ägypten, Tunesien oder Algerien. So würde man den Schleusern das Geschäft erschweren. Die EU muss sich auf Flüchtlingsquoten verständigen und humanitäre Korridore für Asylberechtigte einrichten.
Worin besteht aus Ihrer Sicht der Kernfehler, den Europa in der Flüchtlingspolitik begeht?
Die Schlepper kooperieren und sind schnell. Die 28 Länder der EU sind langsam, misstrauen sich und sind in nationalen Egoismen verhaftet. Ausserdem fehlt es an einer politischen Vision. Der Blick darf sich nicht auf die nächste Wahl richten, sondern wirklich auf die Lösung des Problems.
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Andrea Di Nicola, 41, ist Professor für Kriminologie an der Universität Trient. Er arbeitet als Experte für die Themen Kriminalität, Menschenhandel und Immigration für die UN, die Europäische Kommission und andere Organisationen. Zusammen mit dem Journalisten Giampaolo Musumeci veröffentlichte er 2015 das Buch «Bekenntnisse eines Menschenhändlers – Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen» (Kunstmann-Verlag).