Die aktuellen Aufstände in Ägypten sind für den westlichen Beobachter nur schwer zu fassen. Anders als im Januar, als es um den Sturz von Hosni Mubarak ging, fehlt der aktuellen Bewegung ein klares Ziel. Und es fehlt ihr auch ein probates Mittel. Solange das Militär nicht freiwillig seine Macht zurücknehme, werde sich die Situation in Ägypten nicht verändern, sagt der in Basel lehrende Islamwissenschaftler Maurus Reinkowski im Gespräch mit der TagesWoche.
Herr Reinkowski, was ist nur in Ägypten los?
Maurus Reinkowski: Die aktuellen Demonstrationen zeigen, dass der Sturz von Mubarak keine endgültige Lösung war. Wenn man sich die Vorgänge vom Februar noch einmal vergegenwärtigt, hatten wir es mit zwei Elementen zu tun: Zum einen mit einer Revolte der Bevölkerung, zum anderen mit einem faktischen Militärputsch. Hosni Mubarak hielt am 10. Februar noch eine letzte Rede, bei der er von einem raschen Rücktritt nicht wissen wollte, einen Tag später, am 11. Februar wurde er vom Militär entmachtet. Damit hat sich die Grundkonstellation in Ägypten aber nicht verändert: Die zivile Regierung ist dem Militär weiterhin nur vorgeschaltet – die wahre Macht liegt beim Militär. Was in den letzten Monaten schieflief war, dass das Militär in einer Art Hinhalte-Taktik die Grundanlage der Konstellation – und damit das Problem – nicht verändern wollte und will. Der Prozess des Übergangs ist noch nicht richtig in Gang gekommen.
Also demonstrieren die Menschen auf dem Tahrir-Platz im Grunde noch einmal gegen genau das gleiche wie im Januar und Februar?
In der Tat sind die Ähnlichkeiten erstaunlich. Auch bei den aktuellen Demonstrationen ist es eine sehr diffuse Gruppe, die auf dem Tahrir-Platz revoltiert. Was im Gegensatz zum Januar fehlt, ist ein verbindendes Element. Damals ging es darum, Mubarak zum Rücktritt zu bewegen. Heute ist der Anlass komplexer und die Anliegen sind weniger klar. Das macht die Situation unübersichtlicher und schwieriger.
Wenn die Grundkonstellation das Problem ist, müssten die Menschen doch gegen das Militär aufbegehren.
Ein gesamter Rücktritt des Militärs wäre die echte Revolution. Das ist aber nur schwer vorstellbar, weil die verschiedenen Gruppen in Ägypten widerstreitende Vorstellungen haben. Nehmen Sie die Muslimbrüderschaft: Die beteiligt sich nicht an den aktuellen Demonstrationen, weil sie an geordneten Wahlen interessiert ist. Und die sind bei den aktuellen Umständen nur auf der Basis möglich, die das Militär liefert. Die aktuellen Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz sind zwar verblüffend ähnlich mit jenen vom Frühjahr, werden aber nicht ein so scheinbar klares Resultat wie im Februar liefern können.
War der Sturz von Mubarak letzten Endes nicht wertlos?
Nein. Mit dem Sturz hat die Bevölkerung klar gemacht, dass es für das Militär nicht mehr möglich sein wird, eine weitere Parallelfigur aufzubauen. Ein Mubarak geht, einer kommt – das funktioniert nicht mehr. Und darum war der Sturz von Mubarak ein Erfolg, mindestens ein psychologischer. Die militärische Regierungselite ist seit den 1950er-Jahren fest im ägyptischen System verankert, mit einem zivilen Aufstand allein wäre ein Niederreissen dieser Strukturen nicht möglich gewesen. Der Sturz von Mubarak war darum nur der erste Schritt auf einem langen Weg. Er hat die Grundproblematik zum Vorschein gebracht: Die verfassungsrechtlich abgesicherte Position des Militärs als Wächter des Staates.
Am Montag beginnen in Ägypten die ersten freien Parlamentswahlen – ist das nicht ein Schritt in eine gute Richtung?
Nicht unbedingt. In Tunesien wurde nach dem Sturz des Diktators zuerst ein Verfassungsrat gewählt – das wäre wohl auch in Ägypten der richtige Weg gewesen. Hier in Ägypten spielt das Militär auf Zeit; ohne einen gewissen Machtverzicht geht es aber nicht. Das Militär will sich eine ähnliche Position sichern wie sie das türkische Militär von den 1960er bis in die späten 1990er Jahre hatte. In der Türkei dauerte es viele Jahrzehnte, bis die Übermacht des Militärs in Frage gestellt werden konnte. Solange warten will in Ägypten niemand.
Im Januar und Februar hatte man als westlicher Beobachter das Gefühl, ein Grossteil der ägyptischen Bevölkerung stünde hinter der Revolte. Ist die gesellschaftliche Akzeptanz heute ähnlich gross?
Hier kann ich nur spekulieren. Offensichtlich ist, dass die Bevölkerung sich im politischen System repräsentiert sehen will. Die Regierung soll das Interesse des Volks vertreten und aus dem Volk gestellt werden. Dabei geht es um ganz grundlegende partizipatorische Möglichkeiten, um demokratische Elemente einer Gesellschaft. Das ist grundlegender Konsens in Ägypten. Wie dieser Konsens aber realisiert werden soll, auf welchem Weg und zu welchem Preis – darüber gibt es innerhalb der Bevölkerung keinen Konsens. Das ist aber auch naheliegend, einen solchen Konsens gibt es auch in funktionierenden Demokratien nicht. Eine Stärke der ägyptischen Revolte ist deren Diffusität, ihre gesellschaftliche Offenheit. Und gerade weil die Bewegung so diffus ist, spricht vieles für einen langwierigen Übergangsprozess – und nicht für eine blutige Revolution.
Was sagt es eigentlich über uns aus, dass wir heute so überrascht über die abermaligen Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz sind?
Es ist nur natürlich, dass mit der Zeit eine gewisse Ermüdung eintritt. Wir wollen nicht monatelang Bilder vom Tahrir-Platz sehen. Die Euphorie, die der Westen zu Beginn der Aufstände empfunden hat, die ist vorbei. Es ist zu kompliziert und verwirrend geworden. Wir haben die Bewegung im arabischen Raum sehr positiv aufgenommen und blicken immer noch mit grundsätzlicher Sympathie auf die Geschehnisse. Aber der Schwung des Anfangs ist verflogen – alles, was jetzt noch kommt, scheint uns mühselig und langwierig.