«Es wird schlimmer, bevor es besser wird»

Rund eine halbe Million syrische Flüchtlinge leben in der Türkei, wir haben in Istanbul zwei davon getroffen. Sie erleben ihr Gastland völlig unterschiedlich.

(Bild: Philip Vlahos)

Rund eine halbe Million syrische Flüchtlinge leben in der Türkei, wir haben in Istanbul zwei davon getroffen. Sie erleben ihr Gastland völlig unterschiedlich.

Die Mittelmeer-Kriegsflotte der USA ist schussbereit. Während die Gefahr eines Raketenangriffs auf Damaskus immer grösser wird, bleibt syrischen Flüchtlingen wie dem 22-jährigen Talal in Istanbul nichts anderes übrig, als nachts mit Freunden vor dem Laptop die neuesten Meldungen der internationalen Medien miteinander zu vergleichen und darüber zu diskutieren, welche wohl Fakten liefern und welche bloss Gerüchte aus dem Spiel der Nationen sind.

Hat der saudische Bandar bin Sultan dem russischen Präsidenten Wladimir Putin mit tschetschenischen Terroranschlägen während den Olympischen Spielen 2014 gedroht, falls Russland sein Veto im Sicherheitsrat einlegt? Wird der Iran Israel angreifen, sollte Syrien von den USA bombardiert werden? Wird der Angriff der USA den dritten Weltkrieg auslösen? Ob die USA tatsächlich intervenieren, weiss bis zur amerikanischen Kongresssitzung am 9. September niemand. Eines ist aber nicht nur dem Flüchtling Talal klar: Die Lage in seiner Heimat wird viel schlimmer, bevor sie besser wird.

Heimatlos, machtlos und ausgeliefert

Talal verliess Damaskus drei Monate nachdem die Aufstände und deren blutiger Niederschlag begannen. Anfangs fuhr er in die Türkei, um die Sprache zu lernen. Als die Situation sich verschlechterte und seine Familie kurz darauf in den Libanon flüchtete, realisierte er erstmals, dass Syrien für ihn kein sicherer Ort mehr war. Talal war heimatslos und entschied sich, in der Türkei zu bleiben, um an der Universität seine Wirtschaftsausbildung fortzusetzen. Er sieht sein Volk als ausgeliefert und fühlt sich machtlos, sodass er sich oft überlegt, der Freien Syrischen Armee (FSA) beizutreten, um seinen Beitrag im Kampf gegen Assad zu leisten.

Wer die populären Medien der Schweiz liest, könnte den Eindruck erhalten, ein Angriff der USA wäre der Wunsch der syrischen Zivilbevölkerung, damit Assad geschwächt wird und die FSA vordringen kann. Ein Abend im Wohnzimmer zusammen mit Talal und seinen Freunden zeigt eine andere Sichtweise.

Es wird heftig debattiert. Die USA wolle nicht den Sturz Assads durch die FSA vorantreiben, lautet der Tenor, sondern Assad unter Druck setzen, um eine politische Lösung zu erzwingen. Doch was nützt dabei ein amerikanischer Militärschlag, welcher noch mehr zivile Todesopfer einfordern wird? Bei einem Diktator, der ohnehin seit über zwei Jahren die eigene Bevölkerung angreift und das mutmasslich sogar mit chemischen Waffen? Wie viel Gutes ist überhaupt je aus einer amerikanischen Intervention im arabischen Raum entstanden? So erhitzt die Diskussionen ausfallen, bleibt hinterher einzig die Ernüchterung: Aus dem Exil lässt sich nichts tun, ausser warten und hoffen. Hoffen auf das Wohl der eigenen Angehörigen.

Die Syrier in der Türkei sind integriert

Talal gehört dabei zu den syrischen Flüchtlingen, die sich glücklich schätzen können. Er hat seine eigenen vier Wände. Von den rund 500’000 syrischen Flüchtlingen in der Türkei lebt die Mehrheit ausserhalb der Flüchtlingslager. Sie sind in der türkischen Gesellschaft integriert. Die Syrer können arbeiten und studieren. Dank der Visumsfreiheit zwischen ihrer Heimat und der Türkei verfügen sie über Niederlassungsbewilligungen und gelten im rechtlichen Sinne nicht als Flüchtlinge. Talal ist dankbar dafür: «Die türkische Bevölkerung und die Regierung waren wirklich gut zu uns. Sie haben die Beantragung der Reisedokumente viel einfacher gemacht. Sie wollen die Syrer nicht einfach hier rumsitzen lassen. Es fühlt sich wie zuhause an.»

Die Integration der Syrer in die Gesellschaft liegt auch im Interesse der Türkei. Wenn für 200’000 Syrer zwanzig Lager erforderlich sind, würde es für 300’000 weitere dreissig benötigen. Die Ressourcen der Türkei sind nicht unbegrenzt, selbst wenn es an den Flüchtlingslagern in der Südtürkei im Grossen und Ganzen wenig auszusetzen gibt. Anders sieht es in den arabischen Nachbarländern Syriens aus.

Von geschätzten 2.5 Millionen syrischen Flüchtlingen befindet sich eine Million im Libanon, 160’000 im Irak und 515’000 in Jordanien. Diese Staaten sind mit dem Flüchtlingsstrom sichtlich überfordert und schlechter ausgerüstet als die Türkei. Das Zaatari Flüchtlingslager in Jordanien ist mit seinen 144’000 Bewohnern die viertgrösste Stadt Jordaniens.

Was Talal vermisst, ist vor allem die aktive Solidarität der Bevölkerung dieser Staaten: «Sie haben nichts mit der Türkei Vergleichbares für uns getan und wir sprechen sogar die gleiche Sprache. Im Libanon und Jordanien werden wir wie Hunde behandelt. Solche Sachen machen einen wütend. Es ist dokumentiert, dass während dem Irakkrieg zwei Millionen Iraker alleine nach Damaskus kamen. Als der Libanon 2006 von Israel bombardiert wurde, half Syrien auch. Wir schoben sie nicht in Lager ab, sondern liessen sie in unsere Häuser und Schulen. Sie waren unsere Gäste. Sie waren für uns Blutsbrüder. Sie behandeln uns nun aber wie Dreck.»

Die Schlangen an der Grenze werden länger, die Schikanen grösser

Talal kennt die Einwanderungspolitik des Libanons gegen Syrer aus erster Hand. Als er vor einem Monat nach Beirut reiste, um seine Familie erstmals wiederzusehen, traf er auf unerwartete Widerstände. Sein Einreisestempel war lediglich 48 Stunden gültig. Ihm wurde der Eindruck vermittelt, er dürfe nur so lange im Libanon bleiben und würde andernfalls bei der nächsten Kontrolle festgenommen und nach Syrien deportiert, wo er Militärdienst leisten müsste. So blieb es bei einem sehr kurzen Familienbesuch.

In Wahrheit bedeutete der Stempel, dass er während dieser Zeit eine Niederlassungsbewilligung hätte beantragen müssen. Es gehört aber inzwischen zur Praxis, es den syrischen Einwanderern so unangenehm wie möglich zu machen. Das liegt daran, dass man eine Ausweitung des Konfliktes auf den Libanon befürchtet. Während die Schlangen an der Grenze zum Libanon länger werden, werden auch die Schikanen grösser.

Talal spürte das deutlich: «Am Flughafen fragten sie mich Sachen, die sie nichts angehen. Wieviele Leute in meinem Haus lebten, wo ich wohnen werde, wieso ich da bin, wieviel Quadratmeter die Wohnung meiner Familie hat. Für die Palästinenser in unserem Land ist es noch schlimmer. Sie sind jetzt Flüchtlingsflüchtlinge. Sie haben nicht einmal einen syrischen Pass, nur ein syrisches Flüchtlingspapier.»

Solange sich Talal in der Türkei befindet, kann er den obligatorischen Militärdienst immer weiter verschieben, indem bei der syrischen Botschaft seinen Studiennachweis vorlegt. In Syrien selbst würde ihm ein Studiumsnachweis nicht weiterhelfen. Er würde zwangsrekrutiert. Die Verschiebung ist nötig, damit Talal seinen syrischen Pass erneuern kann. Andernfalls wäre er auf unbestimmte Zeit an die Türkei gebunden.

Die andere Seite der Türkei

Abid hat keinen gültigen Pass und keine Unterkunft (Bild: Philip Vlahos)

Mit diesem Schicksal sind nach Ablauf ihres Passes vor allem syrische Deserteure und gesuchte politische Aktivisten konfrontiert. Unter Umständen werden sie sogar zu Sans-Papiers, so wie der politische Flüchtling Abid. Für den 26-Jährigen sieht die Realtität in der Türkei ganz anders aus als für Talal. Er kann zwar ins Flüchtlingslager, aber damit verliert er auch seine Selbstständigkeit. Seine Bewegungsfreiheit will er aber unbedingt bewahren.

Eigentlich studierte Abid englische Literatur und Marketing in Jordanien. Im Januar 2011 kehrte er für ein halbes Jahr nach Syrien zurück. Als die Aufstände im März begannen, war er einer der ersten, die sie vorantrieben. Er versuchte das Volk zu mobilisieren, indem er bei Demonstrationen selbstgeschriebene Flyer gegen die Regierung verteilte. Er versteckte Lautsprecher in Müllcontainern und spielte darüber Musik und Reden gegen die Regierung und für einen säkulären Putsch ab. Abid verliess Syrien, als ihm das Regime auf die Spur kam. Erfahren hatten sie von seinen Aktionen von seinen Freunden: Das Regime habe sie erst gefoltert, dann getötet, sagt Abid.

Seine Flucht führte erst in die Türkei. Danach ging er nach Ägypten und schliesslich nach Nepal. Als sein Pass kurz davor war abzulaufen, entschied er sich auf die Empfehlung eines Freundes hin, in die Türkei zurückzukehren, um näher an Syrien zu sein. Nun ist er ein Sans-Papiers: «Ich kann meinen Pass nicht erneuern, weil ich gesucht werde. Es ist alles sehr chaotisch. Ich dachte, ich könnte meinen Pass erneuern, indem ich die Regierung besteche. Die Korruption ist gross. Ich bekam ein Angebot, für sehr viel Geld meinen Pass zu erneuern. Also habe ich versucht, durch Spenden Geld zu sammeln.»

Gesammelt hat Abid bisher wenig Spenden aber viele Versprechungen. Seine Freunde wollen ihm das Geld erst geben, wenn er absolut sicher ist, dass die Passerneuerung erfolgreich verläuft. Abid hatte schon zuvor gegen viel Geld versucht, das Ablaufsdatum seines Passes von einem Laserspezialisten fälschen zu lassen. Der Eingriff scheiterte, der Pass war endgültig unbrauchbar.

Einen neuen Pass gibt es nur gegen Bestechung

2000 Euro soll der neue Pass mittels Bestechung kosten. Mit jedem Tag verliert die syrische Währung aber an Wert und der Beamte will mehr Geld. Dabei hat Abid bereits eine Vorzahlung von 15 Prozent geleistet. Er hat aber keine Wahl und muss weiter bezahlen. «Der Schlüssel sind Verbindungen zur Regierung. So funktioniert das mit der Bestechung. Man findet jemanden, der einen Regierungsangestellten kennt und der fädelt das dann ein. Die kriegen viel Geld. Das Ganze ist wirklich erniedrigend für mich. Ich dachte, er wäre vertrauenswürdig, weil er schon einem Freund geholfen hatte. Mein Fall ist aber viel komplizierter, weil ich gesucht werde. Deshalb verlangt er so viel. Und jetzt vertraue ich ihm nicht mehr. Jetzt warte ich einfach wieder. Worauf, weiss ich nicht.»

Keine Papiere mehr zu haben hat weitreichende Folgen für Abid. Er findet keine Arbeit und wenn doch, dann nur zu ausbeuterischen Bedingungen. So lebt er vom Drogenverkauf, Strassenmusik und dem Betteln. So weit möglich versucht er Unterkunft bei Freunden oder mittels Couchsurfing zu finden. Um nicht als Papier- und Obdachloser von der Polizei entdeckt zu werden, umgibt er sich mit Studenten aus dem Westen. Ansonsten könnte er gegen seinen Willen in ein Flüchtlingslager gebracht, oder – noch schlimmer – zurück nach Syrien deportiert werden.

«Ich habe mit der Organisation ‹Helsinki› geredet und gefragt was passieren würde, wenn man mich erwischen würde. Sie sagten, dass man normalerweise in die Flüchtlingslager geschickt wird. Die sind jetzt aber voll, also wird man zuerst für eine Weile in Haft genommen und danach schicken sie dich vielleicht zurück nach Syrien. Die Türkei lässt keine Hilfe für die Syrer zu durch offizielle Organisation, ausser der türkischen Regierung mit ihren Flüchtlingslagern. Sie versuchen zwar mehr Unterstützung zu leisten, aber es ist meiner Meinung nach nicht genug im Vergleich zu dem Geld, welches sie von der EU erhalten. Es ist ein ziemlich dreckiges Spiel. Ich kriege keine Unterstützung, denn Syrer, die ohne Pass hierherkommen, werden in drei Städten gehalten. Ich will aber nicht in meiner Bewegungsfreiheit beschnitten werden, also bin ich zu keiner Behörde.»

Die Angst vor der Polizei ist allerdings nicht der einzige Grund, warum Abid sich am liebesten mit Westlern umgibt. Die türkische Gastfreundschaft beurteilt Abid anders als Talal: «Die Leute hier sind rassistisch. Wenn sie mich sehen, denken sie zuerst ich sei Türke, weil ich aussehe wie sie. Da ich aber nicht so gut Türkisch spreche, meinen sie als nächstes, ich käme vom Westen. Dann reagieren sie enttäuscht, wenn sie erfahren, dass ich Araber bin. Ihre Reaktion ist seltsam, sie zeigen keinen Hass oder so. Aber Araber gehören für sie zur Vergangenheit, zum Islam, zum Osmanischen Reich. Die religiösen Leute müssten mich also eigentlich mögen. Aber ich sehe überhaupt nicht religiös aus, also werde ich von denen auch nicht akzeptiert.»

Keine Papiere und keine Unterkunft

Auf Diskriminierung treffe Abid sogar beim Couchsurfing. In manchen Couchsurfing-Gruppenforen würden Meldungen kursieren, dass man keine syrischen Flüchtlinge aufnehmen solle, da sich die Regierung bereits um sie kümmere. Eine weitere Hürde sei sein Geschlecht. «Nur homosexuelle Gastgeber wollen mich aufnehmen. Ich glaube das Couchsurfing wird in der Türkei hauptsächlich für Sex genutzt. Man findet kaum Leute, die einfach an anderen Kulturen interessiert sind. Und wenn doch, dann interessieren sie sich für die westliche Kultur, nicht für die arabische.» Abid hat viele schlechte Erfahrungen mit dem Couchsurfing gemacht. «Manchmal legen sie sich einfach neben mich während ich schlafe. Es ist sehr unangenehm. Ich tue dann so, als ob ich schlafe. Ich kann nicht einfach gehen, sondern muss bis zum Morgen warten.»

Findet Abid keinen Gastgeber, schläft er entweder im Flughafen, in Parks, Strassen, Gebäudeeingängen oder er campiert auf den Prinzeninseln. Da Letzteres illegal ist, muss er sich jeweils verstecken. Wenn Abids Freundin aus Österreich zu Besuch kommt, versucht sie sein Leben mit ihm zu teilen. Es ist aber eine grosse Herausforderung und endet oft in Tränen. Manchmal komme er bei Freunden von Freunden unter oder bei Personen, die er neu kennenlernt. «In letzter Zeit merke aber, dass ich bei neuen Begegnungen gleich eine mögliche Unterkunft im Sinn habe. Das mag ich nicht und ich fühle mich unrein dabei.»

Die Welten von Abid und Talal und ihre Wahrnehmung der Türkei könnten unterschiedlicher nicht sein. Das Asylwesen der Türkei stösst bei einer so enormen Zahl von Flüchtlingen an Grenzen, selbst wenn das türkische Modell momentan das Beste ist. Aufgrund des drohenden amerikanischen Angriffs, flüchten derzeit weitere Zehntausende aus Syrien in ihre Nachbarländer. Die Politiker europäischer Länder diskutieren derweil, ob sie weitere Flüchtlingskontingente im dreistelligen Bereich aufnehmen sollen. Eines sollten aber alle über Syrien wissen: Die Lage wird viel schlimmer, bevor sie besser wird.

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