EU bastelt einen umfassenden Überwachungsstaat

Ein Alarmsystem gegen alles und jeden: Das EU-Projekt Indect übertrifft selbst das Horrorszenario in Orwells Klassiker «1984».

Ein Alarmsystem gegen alles und jeden: Das EU-Projekt Indect übertrifft selbst das Horrorszenario in Orwells Klassiker «1984».

«Indect – intelligentes Informationssystem zur Unterstützung von Überwachung, Suche und Erfassung für die Sicherheit der Bürger in städtischer Umgebung»: So heisst ein Projekt, das von der EU finanziert wird und «abnormales Verhalten» im öffentlichen Raum automatisch identifizieren und den Behörden melden soll.

In Zeiten, in denen in Deutschland der Verfassungsschutz ausser Kontrolle geraten scheint und beim Schweizer Staatsschutz einmal mehr illegale Fichen angelegt werden, soll das Forschungsprojekt den Überwachungsstaat dank modernster Technik in eine neue Dimension katapultieren.

Überwachungsstaat 3.0

Ins Visier geraten kann jeder, der dem System einen Grund liefert, Alarm zu schlagen. In Echtzeit können die Behörden in Verdachtsfällen Videobilder analysieren, mit Gesichtserkennungs-Software Personen identifizieren und ihre Kontrolle mit allen verfügbaren Informationen ergänzen, zum Beispiel Social-Media-Daten.

Grundlage des Systems sind die Videokameras im öffentlichen Raum, die heute längst Alltag geworden sind und nur noch den Widerstand politischer Randgruppen erregen. Das in Städten wie London bereits flächendeckende System zur Videoüberwachung wird mit intelligenten Überwachungssystemen verknüpft, zum Beispiel Software zur Verhaltensanalyse, die verdächtiges Verhalten erkennen soll und Alarm schlägt.

Ein absoluter Quantensprung: Bisher mussten Videobilder von Menschen analysiert werden. Jetzt übernimmt die Maschine, wozu der Mensch aufgrund der Datenmenge nicht mehr in der Lage ist. Datenschützer warnen, Indect sei die «technische Umsetzung des Generalverdachts».

Jeder ist verdächtig

Ziel des Forschungsprojekts ist letztlich die präventive Erkennung und Verhinderung drohender Verbrechen. Und präventiv, warnt Kulturwissenschaftler Dietmar Kammerer in einem sehenswerten «Kulturzeit»-Beitrag, heisse auch: «Alles ist verdächtig, alles wird angeschaut».

Der Berliner Datenschutzbeauftragte Alexander Dix spricht von einem «regelrechten Horrorszenario». Das Projekt verstosse gegen die heutigen Datenschutzgesetze in Deutschland und drohe deshalb «Geldverschwendung zu sein, weil es nicht rechtskonform umgesetzt werden kann». Aber wer garantiert denn, dass heutige Datenschutzgesetze morgen noch gelten werden?

Datenschutz wird ausgehebelt

Das Projekt umgeht zudem geltende Gesetze elegant. Heutige Datenschutzgesetze basieren primär auf Beschränkungen bei der Datenspeicherung. Intelligente Überwachungssysteme benötigen jedoch keine weiteren Datenspeicherungen – sie verknüpfen bereits bestehende Datensätze und durchforsten das Internet nach neuem, zusätzlichem Material.

Diese Projektgrundlage eröffnet den Behörden bereits nach heutigen Datenschutzgesetzen weitreichende Anwendungsmöglichkeiten – auch in der Schweiz. So sieht Indect zum Beispiel den Einsatz von Drohnen vor, um verdächtige Personen in Echtzeit verfolgen zu können – militärische Technik, die jetzt auch im zivilen Bereich zum Einsatz kommen soll. Heute sind Drohnen (erst?) bei Grossanlässen oder Demonstrationen gesetzeskonforme Realität.

Exportschlager Überwachung

Das Aktivistennetzwerk Anonymous, das bereits beim Anti-Piraterie-Abkommen Acta zum Widerstand aufrief, verbreitet in Videobotschaften eindringliche Warnungen vor Indect.

15 Millionen Euro hat die EU bislang in das Projekt investiert. Ob sich die Schweiz am Forschungsprojekt finanziell beteiligt, ist eine offene Recherche. Für die EU-Behörden gibt es schon allein deshalb keinen Grund, die Investitionen zu stoppen, weil Überwachungstechnik aus Europa ein Exportschlager ist. In Deutschland wird Indect denn auch aus dem Forschungshaushalt finanziert: Es geht dabei auch um Wirtschaftsförderung.

In Deutschland forscht die Firma Innotec Data im Auftrag der Politik für das EU-Projekt. Ihr Werbespruch: «Zu wissen, was man wissen sollte.»

Angebot für Diktatoren und Despoten

Spätestens seit den Terroranschlägen 2001 und dem darauf folgenden «Krieg gegen den Terror» ist der Markt für IT-Überwachungstechnologie explodiert. Die Gesetze in Europa und auch der Schweiz ermöglichen bis heute, diese Produkte in Diktaturen zu liefern – so zum Beispiel in den letzten Jahren auch an das Mubarak-Regime in Ägypten.

Die Dual-Use-Bestimmungen, die diese Exporte regulieren sollen, wurde im Schatten der Acta-Proteste vom EU-Parlament kürzlich sogar weiter gelockert, wie die österreichische Journalistin Alexandra Siebenhofer aufgedeckt hat. Neu ist es Firmen ohne Genehmigung möglich, problematische Güter wie Überwachungstechnologien zu exportieren. Das Gesuch muss erst 30 Tage nach der Lieferung gestellt werden. Die Lobbyisten der Wirtschaft haben sich durchgesetzt, ein Aufschrei der europäischen Öffentlichkeit blieb aus: Es gibt sie in diesem Fall nicht.

Unterdrückung made in Europe

Die Skrupellosigkeit der Firmen und die Zahnlosigkeit der Gesetze illustriert besonders krass ein von «Bloomberg» dokumentierter Fall. Noch bis Anfang November 2011 installierten in Damaskus Angestellte der italienischen Firma Area SpA unterschiedliche Produkte zur Überwachung der Internetkommunikation – im Auftrag des syrischen Geheimdienstes. Ein Ende der Gewalt in Syrien war da schon nicht mehr zu erwarten.

Auch in der Niederschlagung des Aufstands im Iran 2009 spielte Überwachungs-IT aus Europa eine zentrale Rolle: Nokia Siemens Networks (NSN) hatten dem iranischen Regime 2008 Technologie geliefert, um Internet und Mobilfunk gezielt zu überwachen.

Indect dürfte für Europa, die Wiege der Menschenrechte, ein weiterer Exportschlager werden.

Dieser Artikel erschien erstmals auf Infosperber.

Quellen

Dieser Artikel erschien erstmals auf Infosperber.

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