EU-Chefunterhändler Jacques de Watteville – neuer Kopf, alte Taktik

Die Schweizer Landesregierung sucht den Befreiungsschlag, präsentiert mit ihrem neuen EU-Chefunterhändler aber nur eine Scheinlösung.

Staatssekretaer Jacques de Watteville waehrend einer Medienkonferenz am Mittwoch, 12. August 2015, in Bern. De Watteville wird neuer Chefunterhaendler fuer die Verhandlungen mit der EU. Das hat der Bundesrat am Mittwoch beschlossen. Der Diplomat fuehrt derzeit das Staatssekretariat fuer internationale Finanzfragen. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)

(Bild: PETER KLAUNZER)

Die Schweizer Landesregierung sucht den Befreiungsschlag, präsentiert mit ihrem neuen EU-Chefunterhändler aber nur eine Scheinlösung.

Mit einer sonderbaren, aber für den schweizerischen Aussenminister Didier Burkhalter typischen Mischung aus Bescheidenheit und Angeberei ist letzte Woche Jacques de Watteville als neuer EU-Chefunterhändler aus dem Bundeshaus-Hut gezaubert worden. Doch auch das war bezeichnend: Was fast ein Überraschungscoup hätte sein sollen, war eigentlich absehbar.

Das Neue am Alten: Nun sollen in diesem Bereich alle Dossiers und Departemente koordiniert und ein Gesamtergebnis angestrebt werden. Das heisst: Nicht nur die am 9. Februar 2014 «vom Volk» geforderte Einschränkung der Personenfreizügigkeit soll Brüssel schmackhaft gemacht werden, auch die schon länger anstehende institutionelle Reform mit einem umfassenden Rahmenabkommen und auch einige spezifische Regelungen (insbesondere Strom-, Forschungs- und Finanzdienstleistungsabkommen) sollen vorgenommen sowie eine Weiterführung der Kohäsionszahlungen geregelt werden.

Es ist verständlich, dass die Landesregierung angesichts der weitgehend unmöglichen Situation, des Spannungsverhältnisses zwischen innenpolitischen Einschränkungen und aussenpolitischen Notwendigkeiten, den Befreiungsschlag sucht und dies mit einem Personalentscheid anstrebt. Dieser hat offensichtlich vor allem die Funktion, den alten und an der Innenfront wenig geschätzten «Chefunterhändler», den regulär zuständigen Yves Rossier, in diesem Feld aus dem Verkehr zu ziehen.

Die Wahrhaftigkeit des Sandstreuers

Diese Personalie wirft zwei grundsätzliche Fragen auf. Erstens: Wie weit hilft falscher Schein in der Diplomatie weiter? In diesem Fall mehr in der Innen- als in der Aussendiplomatie. Für den Verhandlungspartner Brüssel verändert sich überhaupt nichts. Innenpolitisch dagegen mag eine Scheinlösung kurzfristig nützlich sein; mittel- und längerfristig dagegen ist sie kontraproduktiv, weil sie, wie ein Bild besagt, Sand in die Augen streut. Dies aber fördert nicht das Vertrauen in die Wahrhaftigkeit des Sandstreuers. So kann man in den Medien bereits lesen, dass der mit viel Pomp inszenierte Strategiewechsel ein «Bluff» gewesen sei.

Zweitens: Wird in Anspruch genommen, dass der vorgenommene Personentausch ein Strategiewechsel sei, stellt sich auch die Frage, was sich denn in strategischer Hinsicht geändert hat. Es gilt noch immer das Ziel, so viel wirtschaftliche Partizipation wie möglich mit maximaler politischer Eigenständigkeit zu kombinieren. Im Lauf der weiteren Entwicklung wird das schwierig, weil von einem bestimmten Integrationsgrad an Wirtschaft und Politik zusammenfallen.

Es wirkt komisch, dass die Schweiz für Verhandlungen aufrüstet, von denen man nicht einmal weiss, ob die Gegenseite dazu überhaupt bereit ist.

Daran hat sich überhaupt nichts geändert. Etwas bescheidener hätte man das «Ereignis» der letzten Woche als taktische Umstellung präsentieren können. Die Unterscheidung zwischen Strategie und Taktik ist zuweilen schwer zu treffen. Strategie aber gilt übergeordneten Zielen und ist längerfristiger Natur, Taktik gilt dem kürzerfristigen Einsatz der Mittel in Raum und Zeit. Und dazu gehört auch die Koordination der Verhandlungsmaterie, die jetzt als wichtig hingestellt wurde und bereits vorher wichtig war.

Es wirkt indessen leicht komisch, dass die Schweiz personell für Verhandlungen aufrüstet, von denen man nicht einmal weiss, ob die Gegenseite dazu überhaupt bereit ist. Bisher gab es Gespräche und Konsultationen, von eigentlichen Verhandlungen ist man aber noch weit entfernt.

Die neue Anordnung will auf Parallelverhandlungen zu den Dossiers setzen und hofft, dass sich Verhandlungsfortschritte an einer Front auf andere Fronten günstig auswirken. Das könnte vor allem beim Aushandeln der Bilateralen I so funktioniert haben. Diese waren wirklich sektoriell. Jetzt geht es aber um Grundsätzliches. Wenn man im Institutionellen keine Lösung findet, kann man sich die Verhandlungen im Sektoriellen (z.B. Elektrizität) eigentlich sparen, und wenn man die Personenfreizügigkeit aufgibt, kann man auch das Institutionelle vergessen.

Schweizer Hang zum Illusionären

Das ist vielleicht zu rigoros gedacht. Die Kunst der Diplomatie (mit der die Schweiz bisher ausgezeichnete Resultate erzielt hat) könnte darin bestehen, das Rigide zu überspielen. Es ist aber gefährlich, den in der Schweiz ohnehin stark entwickelten Hang zum Illusionären durch Präsentationen wie diejenige der letzten Woche noch zu nähren.

Zu diesem Wunderglauben gehört die etwa vom Basler Ex-Diplomaten Thomas Borer lancierte Idee, dass die Schweiz mit ihren nicht unberechtigten Migrationssorgen diesbezüglich eine Reform der gesamten EU anschieben könnte, und das sogar als Nicht-EU-Mitglied. Hatten wir das nicht kürzlich schon einmal, als der griechische Ex-Finanzminister Varoufakis von seinem hoch verschuldeten Land aus für alle 28 EU-Staaten ein neues Finanzregime einführen wollte?

Die Schutzklausel für überhitzte Migration, wie sie vom ehemaligen Staatssekretär Michael Ambühl (jetzt ETH) entwickelt worden ist, hat zwar den grossen Vorzug, für die Schweiz keine Extrawurst zu wollen, sondern als Ventil für gleich alle 28 Mitglieder zu dienen. Das heisst: drinnen bleiben zu können, auch wenn man punktuell und temporär aussteigt. Der Vorschlag müsste aber aus dem Inneren der EU kommen und nicht von einem widerborstigen Aussenseiter wie der Schweiz.

Das Abkommen mit dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg wird von SVP, Auns und Co. nicht weniger gebrandmarkt als die unkontrollierte Personenfreizügigkeit.

Die Parteien haben verhalten reagiert. Was hätten sie auch tun sollen? Immer diese Nötigung, etwas sagen zu müssen, selbst wenn es kaum etwas zu sagen gibt. Die SVP hat aber immer etwas zu sagen. Sie nutzt die Gelegenheit, um ihre alten miesmachenden Vorurteile zu bekräftigen: jetzt in der Variante, dass auch ein starker Diplomat nichts erreiche, wenn dahinter eine schwache Regierung stehe.

Die trotz anders erscheinender Haltung in der Lokalpolitik in Generalfragen doch sehr linientreue «Basler Zeitung» stellt – schlecht informiert – dem neuen Chefunterhändler den harten Erfolgsdiplomaten Walter Stucki gegenüber. Gemeint war aber nicht die angebliche «Kriegszeit», sondern das Washingtoner Abkommen von 1946. Das Verhandlungsergebnis, mit dem Stucki damals nach Bern zurückkam, würde von der heutigen SVP und der heutigen BaZ in Grund und Boden gestampft. Selbst nicht-rechtsnationale Stimmen qualifizierten jenes Abkommen als schwarzes Kapitel in der Geschichte des Bundesstaates.

Ob dem von der SVP eingebrockten Problem mit der Masseneinwanderungs-Initiative ist das andere Problem des Rahmenabkommens (als Voraussetzung für sektorielle Einzelabkommen) in den Hintergrund geraten. Der Bundesrat wollte die EU-Erwartung, dass in Streitfällen alleine der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) zuständig sei, so lösen, dass er dies grundsätzlich akzepiert, im Falle des Nichteinverständnisses sich aber das Recht vorbehält, souverän aus dem Abkommen auszusteigen. Dieses Abkommen wird von SVP, Auns und Co. nicht weniger gebrandmarkt als die unkontrollierte Personenfreizügigkeit.

Pragmatismus wäre am Platz

Rechtsnationale Kräfte sehen bereits in der Anerkennung der einseitig (zugunsten der EU) geregelten vorletzten Stufe eine Preisgabe der Souveränität. Der EuGH ist zwar eine Institution der EU, er ist aber als juristisches Gewissen durchaus bereit, gegen einzelne EU-Mitglieder (mit Verurteilungen) sowie gegen die beiden mächtigen Institutionen Kommission und Rat (mit Entscheidsuspendierung) vorzugehen.

Hier wäre auf schweizerischer Seite der sonst stets bemühte Pragmatismus am Platz. Statt mit verabsolutierendem Souveränitätsverständnis sollte man mit Gelassenheit darauf abstellen, dass 99 Prozent der Integrationsmaterie ohnehin unproblematisch sind und dass im verbleibenden einen Prozent ein EuGH-Spruch nicht automatisch gegen die Schweiz ausfallen wird. Jedenfalls sollte man, um bei den vermuteten Prozentanteilen zu bleiben, nicht in 99 Prozent aller Fälle eine Zusammenarbeit ausschlagen, weil bei einem Prozent hinter dem Komma ein Dissens auftreten könnte. Und sollte es doch so weit kommen, dann könnte man weiterschauen.

Der «Coup» der letzten Woche könnte zwei Effekte haben. Er könnte auf falsche Weise beruhigen, dass nun für die Schweiz alles bestens sei. Oder er könnte die politische Schweiz langsam wecken. Wachgerüttelt ist das helvetische Dornröschen aber noch nicht. Eines seiner Träume ist, dass die lieben Nachbarn helfen werden. Man besucht sie und man lädt sie ein. Anfang der Woche war der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier bei Aussenminister Didier Burkhalter zu Gast. Der «Freund» kam aber mit leeren Händen. Steinmeier konnte nur an den EU-Grundsatz der Personenfreizügigkeit erinnern. Burkhalter versicherte, nicht den Grundsatz infrage stellen, sondern nur Modalitäten diskutieren zu wollen.

Angela Merkel wird im September und Manuel Valls im Oktober erwartet. Selbst wenn es einen Nachbarschaftsbonus gibt, die EU besteht aus 28 Mitgliedern, und für die wichtigen Fragen gilt auf dieser Seite die Einstimmigkeit.

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