Am 16. Juli übernimmt Jean-Claude Juncker offiziell das Amt des EU-Kommissionspräsidenten. Er könnte ein Glücksfall für Europa werden.
Noch nie ist nach den Europawahlen so genau hin geschaut worden, wie sich die Fraktionen des EU-Parlaments formieren und bezüglich des künftigen Kommissionspräsidenten positionieren. Noch nie ist in den Medien derart intensiv und informativ über die Konstituierung der europäischen Vertretungsinstitution berichtet worden.
Bisher wurde – zu Recht – immer wieder beklagt, dass es keine europäische Öffentlichkeit gebe, also etwas fehle, was zu einer Gemeinschaft, wenn sie das sein will, gehört. Jetzt ist sie da, auch ohne gesamteuropäische Zeitung, ohne gesamteuropäische Radio- und Fernsehkanäle. Sie ist in die nationalen Medien vorgedrungen und hat da den ihr gebührenden Platz erhalten.
Ein eigenartiges Gebilde
Das heisst nicht, dass die EU gleich auch mit dem nötigen Wohlwollen erörtert wird. Noch immer werden Vorgänge auf der supranationalen Ebene wesentlich kritischer beurteilt als die gleichen Phänomene auf der nationalen Ebene. So werden demokratische Aushandlungsprozesse – auch in der Schweiz – verständnisvoll, ja anerkennend diskutiert, wenn sie das eigene Land betreffen, jedoch als «billiges Feilschen» und als «kleinliches Markten» abgetan, wenn es Brüssel und Strassburg betrifft.
Doch gerade die jüngsten Vorgänge – die Fraktionsbildungen und die Nomination des Kommissionspräsidenten – zeigen, dass auch der EU die nötige Lebendigkeit innewohnt und es letztlich verbindende Kontroversen gibt: einen demokratischen Zwist, der nur stärker macht.
Nachdem dies gesagt ist, sollte man, um der Sache wirklich gerecht zu werden, gewiss alles auch wieder ein wenig relativieren. Zwist ist gut, sollte sich aber nicht darin erschöpfen. Dass jetzt eine neue Legislatur von fünf Jahren begonnen hat, kann man sagen, auch wenn das Parlament nur höchst bedingt eine Legislative im Sinne nationaler Gewaltenteilung ist. Und der Vorsitzende der Kommission ist auch nur in beschränktem Mass Regierungschef, weil der Rat (als Club der nationalen Regierungen) noch immer einen Teil seiner Kompetenzen hat.
Die EU ist eben ein eigenartiges Gebilde. Es gehört dazu, dass man noch immer über die EU nur reden kann, wenn man sie gleichzeitig erklärt. Das entspricht einem Reden über den schweizerischen Bundesstaat etwa um 1850. Auch damals musste man den Bürgern andauernd erklären, wie das neue Gebilde funktioniert – bis sie es einigermassen intus hatten.
Aufwertungen des Parlaments
Das europäische Wahljahr von 2014 brachte auch eine weitere Aufwertung des Parlaments, was den Befürwortern von mehr Demokratie in der EU nur recht sein kann. Seit 1979 ist das anfänglich schwach ausgestattete Parlament Schritt für Schritt stärker geworden. Jetzt hat es sich als Spielmacher bei der Besetzung des Kommissionspräsidiums, das doch als wichtigster Job Europas bezeichnet wird, voll durchgesetzt. Schon vorher brauchte es die parlamentarische Zustimmung. Jetzt aber konnte das Parlament im Voraus Einfluss auch auf das an sich dem Europäischen Rat zustehende Vorschlagsrecht nehmen.
Ironie der Geschichte – doch so kann Politik laufen – ist, dass das Parlament diesen Vorsprung seinem Präsidenten Martin Schulz von der deutschen SPD verdankt. Dieser wollte mit der Einführung von «Spitzenkandidaten» der jeweiligen Parteirichtung für sich selbst den Sprung aufs Kommissionspräsidium vorbereiten. Er schuf damit aber die Plattform für seinen Konkurrenten Jean-Claude Juncker von der luxemburgischen Christlich Sozialen Volkspartei (EVP/CSU). Einmal die Regel etabliert, dass die Leitfigur der Siegerpartei dann Kommissionspräsident werden soll, konnte sich das Gremium der versammelten 28 Staats- und Regierungschefs nicht mehr darüber hinwegsetzen. Daran änderte auch der schräge Widerstand des mit dem Separatismus liebäugelnden britischen Regierungschefs Cameron nichts.
Schulz unterlag, weil die Sozialdemokraten unterlagen. Er versicherte Juncker seine volle Loyalität, er hätte allerdings gerne auch einen Platz in der künftigen Kommission eingenommen (zum Beispiel im wichtigen Wirtschaftsbereich), musste sich dann aber mit dem Präsidium des Parlaments begnügen, das er zuvor bereits innehatte.
Dieser Trostpreis war immerhin mit einer Genugtuung verbunden: Bisher beschränkten sich die Amtszeiten der Parlamentspräsidenten auf eine halbe Legislatur (zweieinhalb Jahre) – Schulz ist nun der Erste, der eine zweite halbe Legislatur anhängen darf. Und er wird sie nutzen, um die Beachtung von Basisbedürfnissen zu stärken. SPD-Mann Schulz, EVP/CSU-Mann Juncker und das Ratsgremium aus unterschiedlichen Regierungsparteien: Das ist – fast wie in der Schweiz – eine permanente Grosse Koalition, und es ist gut so.
Hohe Erwartungen
Am 16. Juli wird das Parlament Juncker auch formell als Kommissionspräsidenten einsetzen. Damit ist aber die «Regierungsbildung» noch nicht abgeschlossen. Bereits jetzt laufen in den Mitgliedstaaten die Erörterungen, wen man als Kommissar nach Brüssel schicken wird.
In Deutschland wird nach dem Willen Angela Merkels wohl wiederum ihr Parteimann Günther Oettinger das Mandat erhalten, was auch erklärt, warum der Deutsche Schulz nicht Kommissionsmitglied werden kann. Oettinger, als Ministerpräsident von Baden-Württemberg bis 2010 in unserer Region bekannt, ist bisher schon Kommissionsmitglied gewesen.
Auch die von den Regierungen vorgeschlagenen Kommissionsmitglieder werden sich – nach harten Hearings – einer Bestätigungswahl durch das Parlament unterziehen müssen. Dabei ist es schon vorgekommen, das ungenügende Nominationen ausgewechselt werden mussten.
Juncker kann in beschränktem Mass auf die Zusammensetzung seiner Mannschaft Einfluss nehmen. Obwohl noch nicht gewählt, hat er die Länder dazu aufgerufen, bei ihren Nominationen Frauen zu berücksichtigen. Dieses Engagement entspricht den Erwartungen, die man von dem zwar bürgerlichen, aber moderat reformfreundlichen und auch sozial engagierten Juncker von der luxemburgischen Chrëschtlech Sozial Vollekspartei hat.
Der 59-jährige Luxemburger könnte ein Glücksfall für die EU werden. Es gibt zwar Stimmen, die ihn als «Europäer von gestern» verschreien. Er wird aber seine nicht nur gestern und auch vorgestern – gesammelten Erfahrungen im nicht einfachen Umgang mit der komplexen EU sehr gut gebrauchen können und wird sich als pointierter Staatsmann gegenüber seinem als farblosen Funktionär eingestuften Vorgänger, dem Portugiesen José Manuel Barroso, sicher positiv abheben. Juncker war von 1989 bis 2009 Finanzminister und von 1995 bis 2013 Premierminister seines kleinstaatlichen Heimatlandes. Ausserdem war er Präsident der wichtigen Euro-Gruppe.
Juncker wollte eigentlich nicht
Im Grund wollte er gar nicht Kommissionspräsident werden. Das Regierungspräsidium seines Landes verlor er, weil seine Partei trotz seiner Popularität die Wahlen verlor. Und bereits zuvor hätte er sich gerne auf die 2009 mit dem Vertrag von Lissabon geschaffene Dauerstelle eines Präsidenten des Europäischen Rats gesetzt, mithin einen Platz eingenommen, den dann der flämisch-belgische Herman Van Rompuy erhielt. Junckers Handicap war, dass er zu bundesstaatlich und zu wenig staatenbündlerisch eingestellt war, um von den primär national eingestellten Vertretern der Mitgliedstaaten gewählt zu werden.
Juncker wird der zwölfte Kommissionspräsident werden; vor ihm war das Präsidium schon zwei Mal an einen Luxemburger gegangen (an Gaston Thorn und Jacques Santer). Wäre die Schweiz dabei, sie könnte mit ihren guten Leuten sicher ebenfalls solche Spitzenpositionen einnehmen. Diese müssten allerdings, wie das auch alle anderen Kommissionsmitglieder tun, ihre nationalen Befangenheiten gleichsam an der Garderobe abgeben.
Vor Juncker gab es starke und schwache Inhaber dieses Amtes. Zu den starken sind zu zählen: Jean Monnet (1952–1955), Walter Hallstein (1958–1967) und Jacques Delors (1985–1995). Die schwachen müssen, obwohl auch sie zur Geschichte gehören und die Geschicke durch Schwäche auf ihre Weise geprägt haben, hier nicht genannt werden. Die Zeichen stehen gut, dass Juncker zur ersten Kategorie gehören wird.
Aus seiner Biografie muss übrigens noch nachgetragen werden, was von den meisten übersehen wird: Jean-Claude Juncker war im Oktober 1996 Gast des Europainstituts in Basel und hielt in der Aula der Universität, eingeführt von Rektor René L. Frey, einen Vortrag über die Wirtschafts- und Währungsunion.