Der ESC ist ein Musikwettbewerb, dessen Ausgang gern auch politisch interpretiert wird. Kein Wunder, bietet er doch den Europäern zumindest einmal im Jahr die Möglichkeit, an einer Abstimmung teilzunehmen.
Nach der 60. Austragung des European Song Contests (ESC) konnte man lesen, dass Europa abgestimmt und diese Abstimmung ein politisch aussagekräftiges Ergebnis gebracht habe. Es heisst, es hätten über 150 Millionen zugeschaut – und wohl auch ein wenig zugehört. Über das Zustandekommen der Ergebnisse wissen wir aber wenig. Das Verfahren ist höchst intransparent. Es wird aber, vielleicht gerade deswegen – fast wie ein Orakel – als besonders aussagekräftig verstanden und im Internet mit Tabellen in eine klare quantifizierte Ordnung gebracht.
Interessieren kann uns, inwiefern die Ergebnisse aus Urteilen über künstlerische Leistungen hervorgegangen sind oder bloss politische Stimmungen aufzeigen. Das Spitzenresultat für den schwedischen Siegersong entsprang sicher einem ausgesprochen apolitischen Votum. Es bestätigt indessen, dass neben der gesanglichen Leistung dieser Song-Konkurrenz immer mehr auch nichtgesangliche visuelle Eindrücke das Urteil mitbestimmen.
Ein politisches Votum wurde darin gesehen, dass Russland wider Erwarten den zweiten Platz erreichte und die grossen Länder des politischen Gegenlagers (Deutschland, Frankreich, Grossbritannien) sozusagen leer ausgingen. «303 Punkte für den ach so bösen Putin – 0 Punkte für die nette Merkel», schrieb Niklaus Ramseyer am 25. Mai auf Infosperber. So gesehen sei das Votum der Liederfreunde ein Votum gegen die Boykottfreunde gewesen.
Unverbindlicher Brückenbauer-Slogan
Diese Interpretation der Dinge will vor allem erneut einen Vorbehalt gegen die Russlandpolitik des Westlagers anbringen. Wie die angebliche Russophilie in der Mischung zwischen Jury-Voting und Tele-Voting zustande kam, ist weniger wichtig. Im Falle der auf Englisch singenden Russin kamen Maximalbewertungen auch aus Deutschland. Es kann ja sein, dass der Auftritt von Polina Gagarina («A Million Voices») wirklich gut war, sicher aber ist es sehr gewagt, in der Anerkennung gleich auch eine Zustimmung zu Putin zu sehen.
Wäre Russland auf dem ersten Platz gelandet, hätte «Europa» nächstes Jahr nach Moskau pilgern müssen. Würde das zu einer wirklichen Völkerbegegnung, wie das der total unverbindliche Slogan des diesjährigen Wiener Contests «Building Bridges» suggerierte, wäre ja nichts dagegen zu sagen. Mit grosser Wahrscheinlichkeit würde daraus aber nur eine Selbstdarstellung im Stil der Sotschi-Olympiade.
ESC: Das «European» dieser Veranstaltung ist sonderbar. Die Bezeichnung erklärt sich aus dem Ursprung, das heisst dem Grand Prix Eurovision de la Chanson (noch französisch), der 1956, im Jahr der Entstehung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), geschaffenen Eurovision. 2015 durfte sogar Australien mitmachen, nicht aber der Kosovo, weil dieser (noch) nicht Mitglied der UNO beziehungsweise der Internationalen Fernmeldeunion ist.
Die Frage, ob und inwiefern solche Contests politische Dimensionen aufweisen, ist an sich durchaus berechtigt. Zum Teil zeigen sich im Abstimmungsverhalten bestehende Nachbarsympathien, aber es spiegelt sich wohl auch der national unterschiedliche Stellenwert, den man dem Lied an sich beimisst.
Es gab in der Vergangenheit Songs, die – im Angebot wie in der Abnahme – sicher eine politische Note hatten. 1982, zur Zeit des Nato-Doppelbeschlusses, der die Stationierung von Atomraketen in Westeuropa vorsah, gewann der deutsche Song «Ein bisschen Frieden» von Nicole. Und ein Jahr nach der Wende ging 1990 in Kroatien Toto Cotugno mit «Insieme: 1992» ins Rennen und gewann mit diesem Hymnus auf die anstehende Europaintegration den Contest. Deutschland und Österreich thematisierten damals mit «Frei zu leben» und «Keine Mauern mehr» ebenfalls die Wende, was ihnen bei der Bewertung allerdings wenig half.
Nach offiziellem Verständnis hat Politik in diesem Contest nichts zu suchen. Weil im armenischen Beitrag «Don’t Deny» eine versteckte Aufforderung insbesondere an die Türkei vermutet wurde, den vor 100 Jahren begangenen Genozid an den Armeniern nicht weiter zu leugnen, musste der Songtitel in «Face the Shadow» umformuliert werden, wobei man sich auch da fragen konnte, welcher Schatten wohl gemeint war.
Neben den am ESC jährlich inszenierten Pseudoabstimmungen gibt es in «Europa» nicht gerade häufig Gelegenheit, seine Stimme abzugeben. Die letzte sogenannte Europawahl (für das EU-Parlament) fand 2014 statt, und die nächste wird erst 2019 stattfinden. Seit dem Vertrag von Lissabon von 2007 (und den Ausführungsbestimmungen von 2012) gibt es immerhin die Europäische Bürgerinitiative. Dieses direktdemokratische Instrument kann allerdings keine direktdemokratische Basisabstimmung herbeiführen.
Die Europäische Initiative verleiht den Unionsbürgern lediglich die Möglichkeit, mit einer Million innerhalb von zwölf Monaten gesammelten Unterschriften aus einem Viertel der EU-Mitgliedsstaaten der EU-Kommission eine verbindliche Anregung zu übertragen, die dann zu einem formellen Antrag an den Ministerrat führt. Die Beteiligung eines Mitgliedstaats gilt dann als erfüllt, wenn mindestens 750 Unterschriften pro Parlamentariersitz, der dem Land zur Verfügung steht, zusammengekommen sind.
Artikulationswille grösser als Realisierbarkeit
Anders als in der Schweiz ist – was bei diesen grossräumlichen Verhältnissen verständlich ist – ein elektronisches Sammeln von Unterschriften möglich. Wie zu erwarten, gelten punkto Teilnahmeberechtigung noch national unterschiedliche Bestimmungen. Über Internet können wir uns wie beim Song Contest leicht informieren, was in diesem Bereich bis jetzt gelaufen ist.
Die da aufgeführte Statistik verweist auf 51 Initiativen. Die Hauptkategorien werden von den vorzeitig abgebrochenen und mit zu wenig Unterschriften ausgestatteten Initiativen gebildet (22) sowie von den nicht zugelassenen Initiativen (20). Dies zeigt, dass der politische Artikulationswille schnell grösser ist als die Realisierbarkeit. Bis jetzt ist noch keine Initiative zu ihrem Ziel gelangt. Zurzeit werden die Unterschriften von vier Initiativen innerhalb von drei Monaten durch die Mitgliedstaaten geprüft, und zwei Initiativen sind von der Kommission in der Folge bearbeitet worden.
Die erste Initiative dieser Art wurde 2011/2012 mit lauten Fanfaren gestartet, sie scheiterte aber deutlich, weil man nur etwa 70’000 Unterschriften zusammenbrachte. Das Ziel der unter dem Titel «Fraternité 2020» laufenden Initiative war, europäische Austauschprogramme wie das Erasmus-Programm oder den Europäischen Freiwilligendienst (EFD) auszubauen und so zu einem vereinten Europa und mehr Solidarität unter den Bürgern beizutragen.
Grossaktionen, die wenig bewegen
Ein Blick in die Liste zeigt, was Menschen bewegt (wie der Song Contest zeigt, was gefällt). Spitzenreiter mit rund 1,9 Millionen Unterschriften ist nicht zufällig ein Vorstoss zum Schutz von Embrionen, gefolgt von einer Initiative zum Tierschutz (gegen Vivisektion/Tierexperimente). Abgebrochen wurde eine Aktion zum Schutz von Milchkühen. Unter den schliesslich nicht weitergeführten Initiativen findet sich übrigens auch eine im November 2012 gestartete zur Kündigung der Personenfreizügigkeit mit der Schweiz.
Die Initiative «Wasser ist ein Menschenrecht» (und keine Handelsware) rangiert ebenfalls weit oben. Die erste von der EU-Kommission zurückgewiesene Bürgerinitiative vom 30. Mai 2012 lautete «My voice against nuclear power» und verlangte einen europaweiten Atomausstieg. Ebenso keine Registrierung erhielt die Empfehlung, die Europahymne in Esperanto zu singen (was so etwas wie ein umgepolter SVP-Vorschlag war).
Die Liste zeigt, wo der Schuh drückt beziehungsweise die vielen Schuhe drücken. Sie kann der Verwaltung und den Volksrepräsentanten signalisieren, was sie mit ihren eigenen Mitteln vielleicht aufnehmen können. Alles in allem stellt sich das in der Politik oft aufkommende Gefühl ein, dass selbst Grossaktionen oft nur wenig bewegen. Im Falle der Europäischen Bürgerinitiative hält sich der Aufwand für die Unterzeichner jedoch in Grenzen – wie beim Song Contest reichen ein wenig Hinschauen und ein Mausklick.