Eine Flagge markiert Zugehörigkeit. Kommen zwei verschiedene Flaggen ins Spiel – sei es im Schrebergarten oder beim offiziellen Auftritt von Vertretern einer Nation – wird es komplizierter. Zum Beispiel, wenn ein weisses Kreuz neben zwölf Sternen auf blauem Grund zu hängen kommt.
Während der Fussball-Weltmeisterschaft hingen – mindestens bis zum Achtelfinal – im ganzen Schweizerland an vielen Fenstern kleinere und grössere Schweizerfahnen: das weisse Kreuz im roten Feld! Einige Angehörige der festeren bis ganz festen Wohnbevölkerung markierten ihre Haltung aber auch mit zwei Fahnen. Neben der schweizerischen Fahne hissten sie zum Beispiel auch die italienische oder portugiesische.
Sie bekundeten damit ihre doppelte Verbundenheit. Dies übrigens wie in gewissen Schrebergärten während des ganzen Jahres. Da allerdings mit der besonderen Problematik, welche Fahne zuoberst am Fahnenmast sein darf oder sein muss. Doppelte Identität konnte man, da ein Auto glücklicherweise zwei Seiten hat, auch mit diesem Vehikel signalisieren: auf der einen Seite zum Beispiel ein Bekenntnis zur Schweiz, auf der anderen eines zu Deutschland beziehungsweise zur «deutschen Elf».
Das alles sind bekannte und nicht weitere Überlegungen erfordernde Erscheinungen. Die vom Fernsehen übertragenen offiziellen Pressekonferenzen im Berner Medienzentrum bilden dagegen eine grössere Herausforderung: Da sind jeweils zwei Schweizerfahnen aufgepflanzt, eine links und eine rechts. Warum zwei, fragt man sich unwillkürlich. Genügt denn eine nicht? Sind zwei nicht weniger als nur eine? Und wenn mehrere, müsste es dann nicht gleich eine ganze Fahnenwand sein, wie man das zuweilen bei Auftritten des amerikanischen Präsidenten sieht?
Aufgeladene Symbolik
Von Landesflaggen heisst es, dass sie einerseits Inhalte vermitteln, andererseits auch Haltungen einfordern. In beiden Richtungen geht es um das beinahe Höchste: um ein ganzes Land, seine Werte, seine Geschichte, sein Volk etc. sowie um ebenfalls beinahe grösste Hingabe unter Zurückstellung partikularer und egoistischer Interessen. In den USA wird das alles mit dem Gestus der rechten Hand aufs Herz unterstrichen.
Mit dem Bewegen von Flaggen können auch substanzielle Vorgänge zum Ausdruck gebracht werden: bei Staatsgründungen, Regierungsantritten, Jubiläen etwa werden die Fahnen gehisst, bei einer Kapitulation gestrichen oder bei offizieller Trauer auf Halbmast gesetzt.
Aus der Erfahrung, dass Emotionen in Kombination mit nationalen Fahnen leicht überborden, hat Nizza während der WM den öffentlichen Gebrauch von Nationalflaggen in der Zeit zwischen sechs Uhr abends und vier Uhr morgens verboten. Die eigene, die französische Tricolore war dabei ausgenommen. Diese allgemein daherkommende Massnahme richtete sich speziell gegen algerische Fans.
In anderen Ländern paaren sich die Nationalfahnen stets mit der Europaflagge. Damit wird der Nationalismus mit dem Bekenntnis zu einem übernationalen Dachverband etwas relativiert.
Eklatant nüchtern (aber nicht weniger zutreffend) kommt hingegen daher, was Wikipedia zum Stichwort «Flagge» zu berichten weiss. «Eine Flagge ist eine abstrakte zweidimensionale Anordnung von Farben, Flächen und Zeichen in meist rechteckiger Form. Sie besteht in der Regel aus einem Tuch, aber auch andere Materialien, wie Papier, Plastik oder Metall, finden Verwendung. (…) Flaggen dienen zur visuellen Übertragung von Informationen, ursprünglich über eine grössere Distanz, wie von Schiff zu Schiff. Oft ist dies die Markierung der Zugehörigkeit beziehungsweise der Vertretung von Gemeinschaften und Körperschaften.»
Unsere Zeit ist von gegenläufigen und doch kombinierten Entwicklungen geprägt: von der ausufernden Verbreitung nationaler Symbole und zugleich von deren Banalisierung durch den hemmungslosen Gebrauch zu Werbezwecken, nicht nur durch die Hotellerie, sondern auch durch Garagisten, Möbelverkaufszentren und dergleichen.
Ein heimlicher Platzhalter
Kehren wir zur sonderbaren Doppelpräsenz von Schweizer Flaggen zurück. Diese steht in einem markanten Gegensatz zur offiziellen Fahnenpräsenz in anderen Staaten. Ob es um das sehr national geltende Frankreich oder das vielleicht nicht weniger national gestimmte Slowenien geht: Da paaren sich die Nationalfahnen stets mit der Europaflagge. Das kann auf die Betrachter anderer Staaten eine beruhigende Wirkung haben. Denn es zeigt, dass der Nationalismus nicht verabsolutiert, sondern mit dem Bekenntnis zu einem übernationalen Dachverband etwas relativiert wird.
Diese leichte Relativierung geht nicht zwangsläufig auf Kosten des nationalen Bekenntnisses. Die beiden Symbole liegen auf unterschiedlichen Ebenen. Oft räumt man solch eine Relativierung ja auch gegen unten ein, nicht nur in der Schweiz. Auch in nichtschweizerischen Regionen Europas sind kommunale und regionale Flaggen durchaus üblich. Dies mit der Folge, dass man sich zu einer dreiteiligen Symbolik bekennt.
Das blaue Sternenbanner gehört dem Europarat, dem die Schweiz nun schon seit über einem halben Jahrhundert (!) angehört. Es ist der EU nur «ausgeliehen» worden.
Das Hochhalten von nun gleich zwei Schweizer Fahnen kann man demnach so verstehen, dass eine von beiden nur ein Platzhalter ist. Ein Platzhalter für die europäische Fahne, die man bei passender Gelegenheit ebenfalls aufzustellen bereit wäre. Dies könnte allerdings den Zorn uninformierter EU-Gegner erregen, die darin ein Bekenntnis zu etwas erblicken, zu dem die Schweiz aus ihrer Sicht maximale Distanz wahren müsste. Uninformiert wären diese EU-Gegner dann, wenn sie meinten, das blaue Banner mit den zwölf gelben Sternen sei auf die EU zugeschnitten.
Das blaue Sternenbanner gehört jedoch dem Europarat, dem die Schweiz nun schon seit über einem halben Jahrhundert (!) angehört. Es ist der EU nur «ausgeliehen» worden. Dieses Zeichen verteufeln käme der kindischen Haltung antieuropäischer Fundis gleich, die bei Erklingen des Schlusspassus von Beethovens 9. Symphonie dieser Melodie (so weit man das kann) demonstrativ den Rücken zukehren, weil sie auch als Hymne der Europäischen Gemeinschaft (EG) verwendet wird – so geschehen bei der Eröffnung der neuen Legislatur des Europäischen Parlaments.
Frühere EG-Gegner wollten in den zwölf Sternen einen heimlichen Rosenkranz und damit ein verstecktes Bekenntnis der damals bestimmenden Volksparteien zu katholisch-christlichen Werten erkennen. Dass die EU – jüdisch-christliches Erbe hin oder her – eine weltliche Staatengemeinschaft ist, zeigt sich jedoch in der Tatsache, dass die Präambel der europäischen Verfassung ohne Anrufung Gottes auskommt. Um diesen Verzicht auszugleichen, nahm man die Formulierung «schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas» auf.
Schweizerisches Bekenntnis zum Christentum?
Im Umfeld des Nationaltags will man vielleicht weniger «abwegige» Gedanken vorgesetzt bekommen als eine erneute Erklärung, woher die Schweiz denn das Kreuz in ihrer Flagge hat. Vermeintliche Supereidgenossen glauben jedoch, die Flagge sei (wie auch die Landeshymne) gefährdet, weil «linke Reformeiferer» sie aus unangebrachter Rücksicht auf die in der Schweiz lebenden Muslime abschaffen wollten. Dieser Vorwurf ist nicht nur Humbug, sondern vergiftet erst noch vorsätzlich unser gesellschaftliches Zusammenleben.
Die Schweiz mit ihrem Kreuz ist jedenfalls nicht christlicher als all die Länder, die «bloss» eine Trikolore haben, angefangen bei Frankreich über die Niederlande, Belgien, Deutschland, Italien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien bis Russland, wie umgekehrt die Engländer, Schotten und Iren sowie die nordischen Staaten, die das Kreuz im nationalen Symbol haben, nicht besonders christlich sind.
Das Kreuz ist einerseits tatsächlich ein christliches Zeichen, es kann aber in der Flaggensprache durchaus auch nur eine säkulare Bedeutung haben. Wer das Kreuz etwa auf der Heckflosse einer «Swiss»-Maschine sieht, wird doch nicht das Gleiche empfinden, wie wenn er es während einer Fronleichnamsprozession sähe. Dieses konventionell gewordene Zeichen dürfte und müsste den meisten in der Schweiz lebenden Muslimen überhaupt kein Problem sein. Ihnen zu unterstellen, sie würden auf dessen Beseitigung hinarbeiten, gehört ebenfalls zu den Diffamierungen, die der ganzen Schweiz schaden.
In der Schlacht von Laupen (1339) sollen sich die Berner und der Zuzug aus der Innerschweiz dieses Zeichen wohl aus gekreuzten Leinenstreifen als praktisches Merkmal auf die Kleider genäht haben.
Ein Erklärungsstrang für die schweizerische und schwyzerische Heraldik führt tatsächlich auf christliche Symbolik zurück. Das Schwyzer Standesbanner war ursprünglich (und vielleicht da bereits mit Bezug auf die Leiden Christi) ein bildloses rotes Tuch. Später wurde es angereichert durch ein Eckquartier bzw. Zwickelbild, das mit dem Kruzifix und den Marterinstrumenten die Passion Christi veranschaulicht. Nochmals später, das heisst 1480, erhielten die Schwyzer für diesen Gebrauch von Papst Sixtus IV. eine explizite Autorisierung.
Ein anderer Erklärungsstrang hebt die praktische und unreligiöse Seite dieser Markierung hervor. Das Zeichen kann man schon im 14. Jahrhundert finden. Insbesondere in der Schlacht von Laupen (1339) sollen sich die Berner und der Zuzug aus der Innerschweiz dieses Zeichen wohl aus gekreuzten Leinenstreifen als praktisches Merkmal auf die Kleider genäht haben, um sich von den gegnerischen Habsburgern zu unterscheiden, die ein rotes Kreuz getragen hätten. Das Zeichen wurde im Laufe des 15. Jahrhunderts auch auf Bannern der gemischten, zum Teil ad hoc sich bildenden Truppen verwendet, weil Kantonsautoritäten mit ihren Zeichen für diese keine Verantwortung trugen.