Faustrecht statt Landrecht

Wasser- und Energieversorgungsprojekte für Indiens boomende Metropolen werden auf dem Boden und auf Kosten der Landbevölkerung teils ohne rechtliche Grundlage realisiert. Jetzt machen sich die Ärmsten im Land als nicht zu übersehende Masse bemerkbar.

Landarbeiter in Katni. Ein eigenes Stück Land zum Bebauen sichert einer Familie das Leben und Überleben. (Bild: Peter Jaeggi)

Wasser- und Energieversorgungsprojekte für Indiens boomende Metropolen werden auf dem Boden und auf Kosten der Landbevölkerung teils ohne rechtliche Grundlage realisiert. Jetzt machen sich die Ärmsten im Land als nicht zu übersehende Masse bemerkbar.

«Wenn der Staat uns zwingt, unser eigenes Land zu verlassen, bringen wir uns um. Das ist besser, als an einem fremden Ort zu sterben.» Es ist die Drohung eines Verzweifelten. Sie kommt von Bhagawan Bhala (67). Leise und eindringlich am Rande einer Protestveranstaltung gegen ein Staudammprojekt.

Hier, im Distrikt Thane nordöstlich von Mumbai, entstehen derzeit zwei grosse Dämme. 94 Dörfer werden in den Fluten versinken, 85 000 Menschen vertrieben. Das gestaute Wasser eines bereits gebauten Dammes vernichtete schon 36 Dörfer, 3500 Menschen wurden enteignet. «Der Staat informierte uns zuvor nicht über den Bau des Damms», sagt Bhagawan Bhala. Einer der Dämme, jener im Fluss Kalu, soll laut den Gegnern illegal ohne jegliche Umweltverträglichkeitsprüfung gebaut werden. Der Stausee wird die 13-Millionen-Stadt Mumbai mit Trinkwasser und Elektrizität versorgen. Gleichzeitig leiden die Adivasi, die indigene Bevölkerung, im betroffenen Gebiet unter Trinkwassermangel.

Szenenwechsel. In einem Sikh-Tempel in einem Park nahe des Parlamentes in Delhi können täglich Tausende von Armen kostenlos essen. Unter ihnen Männer, Frauen und Kinder, die gleich nebenan in Obdach­losenzelten untergebracht sind. Auf einer der Holzpritschen liegt der 40-jährige Moolaram Megwhal aus Rajastan. Er ist ein Dalit, ein Unberührbarer. Zusammen mit den Adivasi, den Ureinwohnern, steht er auf der untersten Stufe des brutalen indischen Gesellschaftssystems.

«Jahrzehnte lebte unsere Familie in Rajastan auf einem Stück Land», erzählt Moolaram Megwhal. «Eines Tages wurden wir vertrieben, weil ein Mann aus einer hohen Kaste den Pachtzins für ganze zehn Jahre aufs Mal bezahlte. Er bedrohte uns, wir hatten keine Chance, kein Geld und bekamen Angst. Deshalb flohen wir nach Delhi.»

Obdachlose erhalten nichts

Gleich nebenan im Frauenzelt erfahren wir von Umar Devi eine weitere Landtragödie. Die Frau stammt aus Bihar, das als ärmster indischer Bundesstaat gilt. Als eine Flut ihr Haus samt Boden davonschwemmt und die Familie ihr ganzes Hab und Gut verliert, wird sie obdachlos. Umar Devi erzählt: «Vom Staat bekamen wir nichts. Hier in Delhi bauten wir an einem Strassenrand eine Slumhütte. Die Polizei jagte uns weg und bot uns an einem anderen Ort einen Platz für 7000 Rupien an. Doch wir hatten das Geld nicht.»

«Incredible India» – mit diesem Slogan verkauft sich der Subkontinent in seiner touristischen Werbung. Der Werbespruch liesse sich mit umgekehrten Vorzeichen auch auf die indische Bodenrechtslage anwenden. So kann etwa der Staat privates Land jederzeit zur Zone des öffentlichen Interesses erklären und die Besitzer enteignen. Laut der indischen Autorin Arundhati Roy wurden in ihrem Land in den vergangenen fünf Jahrzehnten etwa 40 Millionen Menschen allein wegen des Baus von Staudämmen vertrieben.

Es gibt zwar den sogenannten Landtitel, ein Dokument, in dem Grundbesitz verbrieft wird. Doch mehr als das Papier ist er häufig nicht wert. Der Staat kann Grund und Boden jederzeit wegnehmen. Betroffen sind Millionen von Menschen, vor allem Adivasi und Dalits. Landbesitzer wären eigentlich auch gesetzlich dazu verpflichtet, ihre Pächter amtlich registrieren zu lassen. Dies schützt sie davor, dass sie willkürlich vertrieben werden können. Doch häufig «vergisst» man die Registrierung.

Auch ein Gesetz, das den Ureinwohnern, den Adivasi, das Recht verleiht, in den Wäldern zu leben, wird kaum beachtet: Tausende von Ureinwohnern werden aus dem Wäldern vertrieben – im Namen des Naturschutzes oder weil dort Bodenschätze liegen. Es ist auch gesetzlich geregelt, wie viel Land Private besitzen dürfen. Doch das Gesetz wird ausgetrickst, indem etwa ein Stück Land auf den Namen der Ehefrau eingetragen wird, ein anderes auf den Namen eines Sohnes und, so geschehen in Bihar, auf den Namen eines Hundes.

Es herrscht das Faustrecht

In Indien herrscht vielerorts statt Landrecht das Faustrecht. So ist es gang und gäbe, dass einflussreiche Leute ganze Familien aus Dörfern hinausekeln, auf deren Land sie es abgesehen haben. Die Instrumente dafür sind vielfältig und reichen von Verleumdungen, die vor Gericht zum Nachteil der Betroffenen enden, bis hin zur Bedrohung von Leib und Leben, so dass am Ende nichts anderes bleibt, als zu fliehen.

Aneesh Thillenkery, Rechtsexperte der wichtigsten indischen Landrechtsbewegung Ekta Parishad, berichtet von Politikern in Bihar, die auf Wahlveranstaltungen mittellosen Menschen rund 25 000 Land­titel verschenkten. «Auf dem Papier stand jedoch nicht, wo das Land liegt. Die Beschenkten suchten das zuständige Amt auf, um es herauszufinden. Doch da war kein Land.»

Was in Indien mit dem Boden geschehe, habe nichts mit Demokratie zu tun, sagt der Journalist und Buchautor Shravan Garg, Mitglied des nationalen Presserats und Landrechtsexperte. «Hier haben schon immer allein die Reichen und Mächtigen, Politiker und Industriellen über den Boden verfügt. Sie sind die Profiteure des Systems.»

Doch wie wäre dem Landraub auf Kosten der Ärmsten beizukommen? Antworten darauf hat Rajagopal. Er ist Gründer und Präsident von Ekta Parishad sowie Vizepräsident der Gandhi-Friedensstiftung. Er fordert eine nationale Landkommission, die das Land ge­recht verwaltet sowie Schnellgerichte, die Landklagen in kürzester Zeit klären; in der Regel versanden nämlich die ­Klagen von Armen. Seine weiteren For­derungen: Die indigene Bevölkerung dürfe nicht mehr vertrieben werden, ihre tradi­tionellen Land- und Waldrechte müssten endlich anerkannt werden. «Wir wollen eine nationale Landreform, eine saubere Planung. Wir fordern Land für den Lebensunterhalt der Armen, Land zur Bekämpfung von Armut.»

Um seine Forderungen durchzusetzen, organisierte Rajagopal einen der grössten Protestmärsche der indischen Geschichte. Ab 2. Oktober werden um die 100 000 Ureinwohner, Adivasi, und andere Benachteiligte in die Hauptstadt Delhi marschieren.

Um die Armut auf dem Subkontinent zu bekämpfen, braucht es laut Rajagopal mehr wirtschaftliches Wachstum: «Die Mentalität muss sich verändern.» Bislang wehrte sich die Oberschicht, das Kastensystem abzuschaffen, das Menschen diskriminiert und erniedrigt. Die indische Gesellschaft sei auch nicht bereit, die diskriminierende Haltung gegenüber Frauen zu verändern, Kinder-arbeit und Leibeigenschaft seien noch immer weit verbreitet.

«Wir leben in einer wettbewerbs­orientierten Welt», sagt Rajagopal. Wer stets renne, um der Erste zu sein, kümmere sich nicht darum, wie viele Leute hinter einem straucheln. Wenn das Gehirn stets grösser werde und das Herz immer kleiner, so Rajagopal, dann ­sterben die Gefühle. «Du kümmerst dich nicht mehr wirklich um jemanden, der am Strassenrand im Sterben liegt. Du kümmerst dich nicht um Slums, um Menschenschlangen, die für Trink­wasser anstehen. Du kümmerst dich nur um dein eigenes Wohlergehen und darum, wie viel du verdienen kannst. Es gibt ein Hindi-Sprichwort: ‹Wenn du erwachst, bricht der Morgen an.› Also wacht auf!»

 

1:      Landarbeiter in Katni. Ein eigenes Stück Land zum Bebauen sichert einer Familie das Leben und Überleben.

2: Eine Versammlung der Adivasi in Talawali. Die Ureinwohner Indiens gehören neben den Dalits, den «Unberührbaren», zu den grössten Leidtragenden des Landraubs in Indien.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.09.12

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