Kunst müsse sich auszahlen, fand Premierministerin Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren. Damit hat sie die britische Kultur nachhaltig beeinflusst.
Das Schlimmste an Margaret Thatcher war die Stimme. Ein näselndes Quengeln, das nur zwei Ausdrucksweisen kannte: eindringliches Dozieren, wenn sie sich unter Gleichgesinnten glaubte, und seltsam weinerlich klingende Herablassung, wenn sich jemand erfrecht hatte, sie mit einem kritischen Wort in ihrer Ehre zu kränken.
Wie ein fleischfressender Virus ätzte sich diese Stimme vom 4. Mai 1979 bis am 28. November 1990 tiefer und tiefer in die britische Psyche. Mit gnadenloser Täglichkeit dröhnte das Mundwerk aus Radio und TV, um eine weitere gesetzliche Massnahme zur Knebelung all derer anzukündigen, die nicht ihre kunstfeindliche Kleinkrämermentalität teilten oder nicht glaubten, Champagner-Konsum sei ein verlässlicher Gradmesser für Zivilisiertheit.
Mehr als 21 Millionen Flaschen Schampus wurden im Jahr 1989 geköpft – 1977, als Sex-Pistols-Sänger Johnny Rotten «God save the Queen/her Fascist regime» heulte, waren es erst sechs Millionen Flaschen gewesen. Während das verfügbare Einkommen bei den ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung über ihre Regierungsjahre hinweg stagnierte, stieg es bei den reichsten zehn Prozent um fast 60 Prozent. Die Zahl der individuellen Aktienbesitzer schnellte von drei Millionen auf etwa elf Millionen in die Höhe – darum, weil den guten Bürgern die Privatisierung von Gas- oder Wasserwerken sowie der Stahlindustrie mit dem Versprechen schmackhaft gemacht wurde, man könne mit Aktien reich werden.
Serbelnde Industrie
Das bewirkte einen folgenschweren Gesinnungswandel der Mittelschicht: Wo man vorher mit Stolz von den Errungenschaften der Industrie geredet hatte, schwärmte man nun vom Abenteuergeist der Jung-Bankiers. Vor Thatcher hatte gemeinhin die Meinung geherrscht, wenn es mehr als eine Million Arbeitslose gäbe im Land, sei eine Revolte nicht aufzuhalten. Thatcher und ihre erfolgstrunkene Tory-Partei rang die Gewerkschaften nieder, legte ganze Industriezweige in Asche, kürzte die Sozialbudgets und riskierte es, die Arbeitslosenziffer 1984 auf 3,4 Millionen steigen zu lassen. Nach der Niederlage der Bergarbeiter, die 1984 zu einem exemplarischen Streik angesetzt hatten, legte sich ein deprimierendes Gefühl der Ohnmacht über die Menschen, die sich nicht am Springbrunnen der nunmehr freien Marktwirtschaft laben konnten.
Die Familie war ihr sakrosanter Sockel für eine stabile Gesellschaft, gleichzeitig war ihre Wirtschaftspolitik auf die Jagd nach Mammon ausgerichtet.
Erst jetzt konnte Thatcher zum vollen Programm ihrer sozialen Veränderungen ansetzen. Es gab darin einen gewaltigen Widerspruch: Sie erachtete die Familie als sakrosankten Sockel einer stabilen Gesellschaft, dabei war ihre Wirtschaftspolitik ganz darauf ausgerichtet, die Jagd nach Mammon zum obersten Ziel eines nützlichen Menschenlebens zu erheben. Die Obsession mit dem eigenen Vorteil war in ihrer Wirkung dem gemeinschaftlichen Dorf- und Familiengeist, den Thatcher so verehrte, diametral entgegengesetzt.
Skandalöse Gesetze
Im satirischen Roman «What a Carve Up!» von Jonathan Coe (1994) versucht der Bankier Thomas Winshaw von seinem Bruder Henry, einem Politiker, zu erfahren, wie dieser es geschafft hat, eine Kürzung des Gesundheitsbudgets durchs Parlament zu bringen. «Es ist eigentlich ganz einfach», erwidert Henry. «Der Trick besteht darin, immer wieder für Empörung zu sorgen. Es ist sinnlos, ein skandalöses neues Gesetz durchzubringen, nur um dann den Leuten Zeit zu geben, sich darüber aufzuregen. Man muss gleich weitermachen mit etwas, was noch schlimmer ist, und zwar bevor die Öffentlichkeit die Chance hat, zu merken, was passiert ist.»
An den Künsten zeigte Thatcher wenig Interesse. Sie stellte sich auf den Standpunkt, dass Kunst nur einen Sinn habe, wenn sie sich finanziell lohnte. Überall wurden die Subventionen gekürzt. Die Opposition im ganzen Land war stark, beinahe wäre Thatcher gestürzt worden, ehe sie richtig in Fahrt kam. Der Falklandkrieg half ihr aus der Patsche, weil sie damit der Welt zeigte, dass das britische Imperium noch immer brüllen konnte wie ein Löwe. Es war beklemmend zu sehen, wie das ganze Land in einen nostalgisch angehauchten Hurra-Patriotismus verfiel. Der Krieg restaurierte die schlummernden Selbstherrlichkeitsgefühle der Nation, worauf sich Thatchers Popularität in den Himmel schraubte.
Der Krieg restaurierte die schlummernden Selbstherrlichkeitsgefühle der Nation, worauf sich Thatchers Popularität in den Himmel schraubte.
Böse Post-Punk-Songs waren die Folge. «How Does It Feel To Be The Mother Of A Thousand Dead?» sang die Anarcho-Kombo Crass die Falklands betreffend, Robert Wyatt und Elvis Costello sangen von sterbenden Soldaten in «Shipbuilding», The Beat forderten «Stand Down Margaret», Morrissey gar «Margaret On The Guillotine». «Die anständigen Leute haben einen schönen Traum», heisst es darin lapidar und bitterböse: «Margaret unter der Guillotine.» Leute wie sie seien schuld, dass man sich so müde fühle. «Wann wirst du sterben? Wann wirst du sterben? Leute wie du sind schuld, dass ich mich so alt fühle. Bitte stirb!»
Der post-punkige Songschreiber Billy Bragg erklärt noch heute, nur wegen seinem Zorn über Thatcher politisiert worden zu sein. Mit Paul Weller und Jimmy Somerville lancierte er 1987 die Organisation Red Wedge, die Musikfans für die Sache der Opposition zu gewinnen versuchte. Red Wedge predigte vorab zu den bereits Bekehrten. Bei den Wahlen von 1987 feierten die Tories einen kapitalen Sieg. Dass später Tony Blair Popmusikern den Hof machte, war eine zynische PR-Aktion, die in der Euphorie des Regierungswechsels von Bands wie Oasis noch halbwegs begrüsst wurde. Es drückte höchstens einen Wandel im Denken des Establishments aus: Die kreativen Industrien musste man hofieren, weil sie doch wichtig fürs Land waren. Die Pop- und Rockszene selber blieb unverändert, hatte schon früher meist für Labour oder Anarcho gestimmt.
Wüste Konfrontationen
Der wichtigste musikalische Thatcher-Effekt zeigte sich einige Jahre später: Aus Frustration über die Politik hatten sich viele Jugendliche in den Underground abgesetzt und reisten per Autobus zum Sound von Acid House abseits vom Konsumboom durchs Land. Beim Free Festival von Castlemorton 1992 kam es zu einer wüsten Konfrontation zwischen Partygängern und Polizei. Zur Unterbindung solcher Vergnügen wurde alsbald eine Reihe von Verboten eingerichtet. Damit hatten nach den Bergwerklern auch die «Crusties» ihren Kampf verloren.
Besser erging es den Schwulen. Als die Thatcher-Regierung 1988 ein neues Gesetz einführte, welches die «Promotion von homosexuellem Lebensstil» an öffentlichen Orten verbot, wurde die Szene mit einem Schlag politisiert. Der Paragraph wurde 2003 abgeschafft – das rege Geschäftsleben in den Schwulenvierteln Grossbritanniens zeugt heute davon, wie effizient man sich damals organisierte.
Dass Theater sich lohnen muss, bestimmt noch heute die Situation – Bühnenexperimente sind erschreckend rar geworden.
Positiv schien sich die Präsenz vom Feindbild Thatcher vorerst auch auf die Theaterszene auszuwirken. Dramatiker wie David Hare, Caryl Churchill, Howard Brenton und Alan Ayckbourn fassten den Zorn der denkenden Schichten in prägnante Sätze und sezierten die Thatchersche Kleinkariertheit mit messerscharfen Wordskalpellen. Die Theater waren voll – ein paar Jahre lang, bis der Staat die Subventionen drosselte. Danach kamen die Musicals: Klamauk und Trara, das zwar unterhaltsam sein mochte, selten aber einen aufmüpfigen Gedanken äusserte.
Kurz nach Thatchers Ende wurde zwar die National Lottery eingeführt, aus der jede Woche Millionenbeträge zur Kulturförderung abgezweigt wurden. Aber der Gedanke, dass Theater sich lohnen muss, bestimmt noch heute die Situation – Bühnenexperimente sind erschreckend rar geworden.
Finanzielle Erfolge
Auch die britische Filmindustrie erlebte unter Thatcher eine Hausse. Stephen Frears, Ken Loach, Menelik Shabbaz, Derek Jarman und etliche andere lieferten Meisterwerke vielschichtiger Sozialkritik ab, die im Kino grosse Erfolge feierten. Der neu eingerichtete TV-Channel 4 zeigte und förderte viele interessante, ja militante Filme von Randgruppen. Alle Erfolge stoppten Thatcher nicht, im Jahr 1985 das Gesetz, wonach ein Anteil der Kinoeinnahmen für die Schaffung von britischen Filmen abgezweigt wurde, abzuschaffen und auch noch den 25-prozentigen Steuerdiscount für Filminvestitionen zu streichen.
In den Neunzigern wurde die Ära Thatcher in mehreren Filmen unter viel Publikumserfolg aufgearbeitet. Ob «The Full Monty», «Brassed Off» oder «Billy Elliott» – die rührenden Filme spielten alle vor dem Hintergrund der Minenstreiks und Zechenschliessungen und bliesen der alten Maggie den Marsch.
In der Literatur hielt sich der explizite Thatcher-Effekt in Grenzen.
In der Literatur hielt sich der explizite Thatcher-Effekt in Grenzen. Dass Salman Rushdie in seinen «Satanic Verses» Mrs. Thatcher als Mrs. Torture auftreten liess, ging im Lärm um die durch erzürnte Muslims ausgesprochene Fatwa leider unter. Der wohl subtilste Roman über den Zeitgeist der Thatcher-Jahre erschien indessen erst 2004 – «The Line of Beauty» von Alan Hollinghurst. Der Thatcher-Effekt ging aber nicht spurlos an den Verlagen vorbei, ganz im Gegenteil: Die Philosophie, dass nur finanzieller Erfolg wirklicher Erfolg sei, machte sich auch hier breit. Wie bei den Plattenfirmen hielt man sich auch im Verlagswesen fortan an erprobte Erfolgsrezepte – was nicht in vermarktbare Boxen passte, blieb liegen. Der Langzeiteffekt ist traurig – stromlinienförmige Bücherläden, wo alles schön in die Schubladen passt.
Zelebrierter Rummel
Alles lässt sich auf das Credo reduzieren, dass Kunst sich auszahlen muss. «Thatcher versuchte, alle Kunstschulen in kommerzielle Organisationen zu verwandeln», sagt die Künstlerin Maggi Hambling. Das Beispiel von Damien Hirst und Tracy Emin zeigt vielleicht am besten die Folgen vom Thatcherschen Profit-über-alles-Credo: Sie profitierten von der schlauen Monetarisierung der jungen Kunstszene durch fündige Entrepreneure aus der Oberschicht, wurden so reich, dass sie gefeiert wurden wie Popstars, und erschlossen die Kunstszene für einen archetypischen Thatcher-Rummel – den Rummel um «Celebrity». Und «Celebrity» ist die Zelebrierung des Erfolges an sich. Thatcher pur.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 24.02.12