Fessenheim ist erst angezählt

Die neue französische Energieministerin bekräftigt den Willen von Staatspräsident François Hollande, das AKW spätestens 2017 abzustellen. Obwohl das Ende des Atommeilers vor den Toren Basels damit angekündigt ist, geht ein Seilziehen weiter, ob und wie das Werk nachgerüstet werden soll.

Das AKW Fessenheim dürfte eines der ersten Werke in Frankreich sein, das abgestellt wird. (Bild: Keystone/Martin Rüetschi)

Die neue französische Energieministerin bekräftigt den Willen von Staatspräsident François Hollande, das AKW spätestens 2017 abzustellen. Obwohl das Ende des Atommeilers vor den Toren Basels damit angekündigt ist, geht ein Seilziehen weiter, ob und wie das Werk nachgerüstet werden soll.

Tiefrot ist auf der offiziellen Schweizer Erdbebenkarte die Oberrheinische Tiefebene eingezeichnet. In der Schweiz ist das Risiko eines starken Bebens nirgends grösser als in Basel. Am 18. Oktober 1356 legte das grösste bekannte Erdbeben nördlich der Alpen die Stadt Basel in Schutt und Asche – dessen Stärke schätzt man heute auf 6,2 bis 6,7 auf der Richterskala. Ausgerechnet in dieser tektonisch unruhigen Zone zwischen Colmar, Freiburg im Breisgau und Basel steht Frankreichs ältestes AKW.

In Fessenheim am Rhein, 35 Kilometer nördlich von Basel, produziert der französische Stromriese Electricité de France (EDF) seit 1977 Atomstrom in zwei mit Rheinwasser gekühlten 900-Megawatt-Druckwasserreaktoren. Seit Jahren machen sich vor allem die Nachbarn in der Schweiz und Deutschland, die den Bau eigener Atommeiler am Rhein in Kaiseraugst und Wyhl erfolgreich verhindert haben, Sorgen über die Sicherheit der Anlage.

Wohin mit 220’000 Menschen?

Seit der Katastrophe von Fukushima fordern sie noch vehementer, dass das Elsässer AKW stillgelegt wird. Nicht nur überzeugte Atomgegner, sondern unter anderem auch die Regierungen der Kantone Basel-Stadt und Jura halten auch nach neusten Beruhigungen der französischen Atom-Aufsichtsbehörden an ihrem Abschaltbegehren fest.

Die Sorge ist verständlich: Bei einem schweren Störfall in Fessenheim müssten allein im Umkreis von 20 Kilometern rund 100’000 Menschen im Elsass und rund 120’000 im Badischen evakuiert werden. In einem Umkreis von 30 Kilometern sind auch die Städte Mülhausen, Colmar und Freiburg betroffen. Sie müssten geräumt werden – die Sperrzone würde bis an die Stadtgrenze Basels reichen. Wohin mit all den Leuten, weiss niemand. «Man kann nur hoffen, dass es nie zu einem schweren Unfall kommt. Sonst würde ein Chaos ausbrechen», hatten Mitglieder des Krisenstabs bei der letzten AKW-Katastrophenübung vor fünf Jahren der Zeitung «L’Alsace» erklärt.

Hört man sich heute in der 2000-Einwohner-AKW-Gemeinde am Rhein um, ist trotz Fukushima wenig Angst zu spüren. «Ans Atomrisiko haben wir gar nicht gedacht, als wir vor 15  Jahren hierhergezogen sind», sagt eine der Mütter, die vor der Dorfschule auf ihre Kinder warten. Auch Marcel Furstoss, der immer hier gewohnt hat und in einer Textilfabrik arbeitet, relativiert die Gefahr: «Natürlich diskutieren wir über Fukushima. Aber Risiken gibt es auch andernorts, wenn ich nur an das nahe Chemiewerk der Rhodia denke.» Als Gewerkschaftsdelegierter bangt er in erster Linie um die Arbeitsplätze, die vom AKW abhängen.

Für die Gemeinde und die örtliche Wirtschaft ist der EDF-Atommeiler ein Segen: Die Unternehmenssteuern sind rekordtief, viele Einwohner leben direkt oder indirekt vom Werk. Und die EDF belohnt die Akzeptanz auch mit allerlei Zuwendungen an die Gemeinde und die örtlichen Vereine. «Vor dem Bau des AKW lebten die Leute hier im Mittelalter. Seither sind wir im 22. Jahrhundert», schwärmt Jean-Louis Kress, seit 20 Jahren Arzt in Fessenheim. Er hält ein Abschalten für falsch und meint, fast alle AKW-Gegner seien sowieso Deutsche oder Schweizer.

Hollande steht im Wort

Das stimmt allerdings längst nicht mehr: Auch im Elsass regt sich seit Fukushima der Widerstand gegen den Weiterbetrieb des Altreaktors. Und seit der Sozialist François Hollande den AKW-Fan Nicolas Sarkozy aus dem Elysée vertrieben hat, steht die Abschaltung von Fessenheim auf der politischen Tagesordnung. In seinem Wahlbündnis mit den Grünen hatte sich der neue Staatspräsident im letzten Herbst gar für die sofortige Still­legung starkgemacht. Mittlerweile hat er seine Ankündigung etwas zurückgenommen. Im Jahr 2017, dem letzten Jahr seiner Amtszeit, werde Fessenheim vom Netz gehen, versprach er unmittelbar vor seiner Wahl im Mai etwas vorsichtiger.

Für die Anti-Fessenheim-Aktivisten war der präsidiale Teilrückzieher eine Enttäuschung: Der Trinationale Atomschutzverband Tras, die wichtigste ­regionale Anti-Fessenheim-Organisation, forderte in einer Resolution zuhanden Hollandes umgehend einen Zeitplan für die schnellstmögliche Stilllegung der zwei Reaktorblöcke. «Hollande hat sich sehr explizit geäus­sert, und ich glaube, dass er zu seinem Wort steht», sagt der Basler Tras-Präsident Jürg Stöcklin dazu. «Ich habe Verständnis dafür, dass er Fessenheim nicht gleich bei seinem Amtsantritt schliessen kann. Dafür braucht es ja sorgfältige Vorbereitungen.»

Energieministerin auf Kurs

Dass Hollande von seinem Versprechen abrücken könnte, glaubt Stöcklin umso weniger, als inzwischen auch Delphine Batho, die neue französische Energieministerin, in einem Interview mit der regierungsnahen Zeitung «Libération» die Stilllegungspläne bestätigt hat. «Wir schliessen Fessenheim, wir bauen den EPR-Reaktor von Flamanville fertig, und wir starten bis zum Ende der Legislatur kein neues Reaktorprojekt», sagte sie wörtlich.

Trotzdem, um es im Boxer-Jargon auszudrücken: Das AKW Fessenheim ist erst angezählt, das definitive Aus ist noch nicht besiegelt. Zurzeit ist ein Seilziehen um die Nachrüstung und den Weiterbetrieb des AKW in vollem Gang. Seit März sind beide Reaktoren nach den alle zehn Jahre fälligen In­spektionen durch die französische Atomaufsicht wieder am Netz. Reaktorblock 1 hat den Betrieb bereits im November 2011 wieder aufgenommen. Laut der Werkbetreiberin EDF haben die Revisions- und Nachrüstungsarbeiten der letzten Zeit über 200 Millionen Euro gekostet, wobei die teuerste Investition der Austausch von drei Dampfgeneratoren war. Das Unternehmen EDF stellt sich überhaupt nicht darauf ein, das Werk abzustellen.

Schon 2013 könnte Schluss sein

Dazu kommt, dass die Autorité de sûreté nucléaire (ASN) nach Fukushima den Weiterbetrieb an zusätzliche Auflagen vor allem im Bereich von Erdbeben- und Hochwasserschutz geknüpft hat. So müssen unter anderem die zu dünnen Bodenplatten, auf denen die Reaktoren stehen, nachträglich massiv verstärkt werden, so dass sie bei einer Kernschmelze verhindern, dass Radioaktivität in den Untergrund und damit in den Rhein gelangt. Die EDF rechnet bei ihrem von der ASN noch nicht genehmigten Projekt mit Kosten von weiteren 30 Millionen Euro.

Kritiker, darunter auch André Herrmann, der Basler Ex-Kantonschemiker, Präsident der Schweizer Strahlenschutzkommission und Fessenheim-Fachmann der Basler Regierung, halten die Pläne der EDF für ungenügend. «Ich bin zwar in erster Linie Chemiker und kein Baufachmann. Aber an der von der EDF vorgeschlagenen Lösung, nachträglich die alte Platte mit einer neuen darauf aufgegossenen Schicht zu verstärken, um so das bei einer Kernschmelze entstehende 2800 Grad heis­se Corium aufzuhalten, habe ich meine Zweifel.» Sicher ist aber: Wenn die ­Bodenplatten bis Mitte 2013 nicht wirklich verstärkt sind, wird abgestellt. Das sagt neuerdings sogar die sonst sehr EDF-freundliche ASN.

Geldmaschine steht auf dem Spiel

Atomkritiker und Tras-Gründungsmitglied Rudolf Rechsteiner traut der Sache nicht: «Wenn derart viel Geld investiert wird, wird das AKW bestimmt länger als bis 2017 in Betrieb sein, fürchtet er. Am sichersten wäre es laut Rechsteiner deshalb, sofort abzustellen. Im AKW Fessenheim selber will man sich zu den Stilllegungsforderungen nicht äussern. Werkleiter Thierry Rosso sagt, das sei Sache der Politik. Er ist aber überzeugt, dass ein Abstellen aus Sicherheitsgründen unnötig ist. Sein oberster Chef, EDF-Konzernchef und Sarkozy-Freund Henri Proglio, hat für den Fall eines politisch begründeten Abstellens denn auch bereits Entschädigungsforderungen angemeldet.

Gegen die Stilllegung und eine Kurskorrektur der nationalen Energiepolitik weg vom Atompfad sind auch die in Atomfragen immer noch unbedarften Gewerkschaften. So findet auch Jean-Luc Cardoso, Gewerkschafter der CGT in Fessenheim, die bereits getätigten und noch anstehenden Investitionen seien bei einer Stilllegung eigentlich rausgeworfenes Geld. Er sagt aber auch, dass die Stromproduktion in Fessenheim grundsätzlich sehr rentabel ist. «Die ursprünglichen Investitionen sind nach 35 Jahren längst amortisiert. Jeden Tag, an dem Fessenheim weiterläuft, spült das Werk der EDF fette Gewinne in die Kasse.»

So breitete sich die radioaktive Wolke im März 2011 nach der Atomkatastrophe in Fukushima aus. Rot die am stärksten verseuchte, verbotene Zone (100 Millisievert pro Jahr). Orange und gelb Zonen, in denen die Evakuation empfohlen wird.

So breitete sich die radioaktive Wolke im März 2011 nach der Atomkatastrophe in Fukushima aus. Rot die am stärksten verseuchte, verbotene Zone (100 Millisievert pro Jahr). Orange und gelb Zonen, in denen die Evakuation empfohlen wird. (Bild: Daniel Holliger; Quelle: André Herrmann)

Die Fukushima-Wolke übertragen auf die Gegend um Fessenheim mit Berücksichtigung der üblichen Windverhältnisse in der Oberrheinischen Tiefebene. (Bild: Daniel Holliger; Quelle: André Herrmann)

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 03.08.12

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