Foul im Staate

Im Zusammenhang mit aktuellen Volksinitiativen wird häufig der missachtete «Volkswillen» zitiert – dabei hat dasselbe Volk einer Bundesverfassung zugestimmt, deren durch sie garantierte Grundrechte nicht einfach über den Haufen geworfen werden können.

Auf den Mann spielen statt sachlich diskutieren – Volksrechte machens möglich. (Bild: Anthony Bertschi)

Im Zusammenhang mit aktuellen Volksinitiativen wird häufig der missachtete «Volkswillen» zitiert – dabei hat dasselbe Volk einer Bundesverfassung zugestimmt, deren durch sie garantierte Grundrechte nicht einfach über den Haufen geworfen werden können.

Im Fussball unterscheidet man bekanntlich das Spiel um den Ball vom Spiel auf den Mann. In einer Zeit, in der sich auch der Frauenfussball etabliert hat, müssten wir allerdings besser unterscheiden zwischen dem Spiel um den Ball und dem «Spiel auf die ballführende Person».

Ein ähnlicher Unterschied lässt sich in der Politik machen, genauer gesagt in der direkten Demokratie, noch präziser bei den Volksinitiativen. Bei den sieben zwischen 1893 und 1979 von Volks- und Ständemehrheiten angenommenen Volksinitiativen ging es sechsmal «um den Ball», um ganz bestimmte Sachanliegen wie das Verbot eines bestimmten Schnapses, um die Einführung der Proporzwahl, um das Staatsvertrags-Referendum, die Rückkehr der direkten Demokratie und zweimal um das Verbot von Spielbanken.

Von den seit 1979 lancierten und von Volk und Ständen mehrheitlich angenommenen 14 Volksinitiativen ging es nur noch bei der knappen Mehrheit «um den Ball», etwa den lohnarbeitsfreien 1. August, den Schutz der Alpen oder der Hochmoore, den Beitritt zur UNO, das Verbot von Genfood oder das AKW-Moratorium. Nicht weniger als sechsmal wurde auf Personen «gespielt»: Es ging um Gewaltkriminelle, Sexualstraftäter, Pädophile, Muslime, Einwanderer und Kriminelle ohne Schweizer Pass.

Grundrechte als Menschenrechte

Mit Ausnahme der Muslime und Einwanderer dürften diese Menschen für viele Schweizerinnen und Schweizer eher schräge Vögel sein, um es vornehm auszudrücken, ganz gewiss jedoch keine besonders geschätzten Persönlichkeiten. Doch auch sie sind Menschen, die gemäss der ebenso von Volk und Ständen angenommenen Bundesverfassung über Grundrechte verfügen, die auch von Parlaments- oder Volksmehrheiten nicht einfach über den Haufen geworfen werden können.

Auch sie dürfen nicht willkürlich behandelt werden, unverhältnismässig oder derart, dass ihre Kinder mehr bestraft werden als sie selber. Zumal diese Grundrechte als Menschenrechte sogar kontinental geschützt werden, vom Strassburger Gerichtshof für Menschenrechte – einer revolutionären Errungenschaft, die Europa 1953 eingerichtet hat als Lehre aus den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, während derer die Grundrechte von Millionen von Menschen sogar von ihren eigenen Staaten verletzt worden waren.

Das Parlament ist bei der Gesetzgebung gehalten, auch die übrigen Verfassungsbestimmungen zu beachten.

Wer politisch und vor allem direktdemokratisch auf die Person beziehungsweise auf Personen zielt, hat also ein Problem. Auch er muss sich an das Recht halten, wie – ebenfalls gemäss Bundesverfassung –  alle, die Macht ausüben. Er muss Umsicht walten lassen. Er kann ganz gewiss den Umgang mit bestimmten Menschen besonders gestalten, darf dabei aber nicht deren Grundrechte infrage stellen.

Doch genau an dieser Umsicht haben es die meisten Verantwortlichen dieser personenzentrierten Volksinitiativen fehlen lassen. Weshalb ihre Volksinitiativen nicht so verwirklicht werden konnten, wie sie sich dies vorgestellt haben. Denn das Parlament ist bei der Gesetzgebung gehalten, auch die übrigen Verfassungsbestimmungen zu beachten, nicht nur jene, welche eine bestimmte Volksinitiative eben geschaffen hat.

Und genau das schafft Unmut. Die Anhänger und Zustimmenden der personenzentrierten Volksinitiativen – immerhin die Mehrheit der Stimmenden –  beklagen sich, dass der «Volkswille» missachtet worden sei, dass der Bundesrat und die Bundesversammlung das Volk und die Volksrechte missachten würden. Diese wiederum entgegnen zu Recht, dass das gleiche Volk einer Bundesverfassung zugestimmt habe, die wegen einer Änderung nicht alle anderen Bestimmungen der Verfassung obsolet werden lässt.

Schwerwiegendes Dilemma

Aus diesem schwerwiegenden Dilemma können wir uns nur befreien, wenn wir den Mut haben, Volksbegehren nicht mehr zur Volksabstimmung zuzulassen, welche die in der Verfassung genannten Grundrechte der Menschen verletzen, ohne diese explizit infrage zu stellen. Das würde einen zusätzlichen Satz in der Bundesverfassung nötig machen, mit dem die Bundesversammlung – National- und Ständeräte – veranlasst würde, nur noch solche Volksbegehren zur Volksabstimmung zu bringen, die keine Grundrechte verletzen beziehungsweise diese vorher entsprechend zu präzisieren, für den Fall, dass die Volksinitiative von der Mehrheit der Stimmenden und der Stände angenommen würde.

Eine solche feinere Einbettung der direkten Demokratie ins «Gesamtkunstwerk Demokratie» würde nicht ausschliessen, dass auch über die Grundrechte nachgedacht und diese reformiert werden können. Doch müsste dies explizit geschehen. Das heisst, wer Grundrechte so umbauen möchte, dass sie selbst den Minimalansprüchen der Europäischen Menschenrechts-Konvention (EMRK) widersprächen, der müsste erst eine Volksinitiative lancieren zur Aufkündigung der EMRK.

Wer die Grundrechte so schmälern will, dass sie bloss andere Bestimmungen der Bundesverfassung umdeuten, der muss diese Einschränkungen explizit aufzählen und deutlich machen. So kann man auch in der Demokratie auf den Mann spielen. Doch es dürfte mehr Bürgerinnen und Bürgern klar werden, dass hier ein Foul angestrebt wird und diesem deshalb die Zustimmung verweigert werden sollte.

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