Die Blackfeet bewohnen ein Reservat neben dem Glacier National Park in Montana. Nun soll Erdöl-Fracking Geld in die Kassen spülen. Noch leisten einige Mutige Widerstand. Sie wollen nicht, dass das Wertvollste, das ihnen geblieben ist, zerstört wird – die Natur.
Audienz beim Häuptling der Blackfeet im Stammeshauptquartier in Browning. Heute ausnahmsweise keine Sicherheitskontrolle. Einfach durchmarschieren, den Flur entlang, zweite Türe links. Drinnen sitzt Chief Earl Old Person, ein verschmitzter Herr von 84 Jahren, flankiert von Sekretärin, Büchergestellen voller Papierstapel und etwas Indianer-Ikonografie an der Wand, und erzählt von Interlaken.
Ausgerechnet Interlaken. Wie er 1947 mit einer Delegation amerikanischer Pfadfinder nach Paris reiste und anschliessend auf einen Abstecher ins Berner Oberland. Wie sie sich vor Ort mit einer Armeeunterkunft zufrieden geben mussten. «Basic», sagt da der Häuptling und muss schmunzeln. Nur das Allernotwendigste, fast wie im Reservat.
Zuviel Gegenwart für Traditionen
Chief Earl Old Person ist einer der Letzten seiner Art. Er ist ein Vollblut, eines von höchstens noch 300. Rund 16 500 eingetragene Mitglieder zählt der Stamm, wovon etwas mehr als die Hälfte im 6000 Quadratkilometer grossen Reservat lebt.
Er trägt nebst seinem bürgerlichen auch einen indianischen Namen, Charging Home, was so viel heisst wie «Der, der von einem Scharmützel pfeilschnell nach Hause reitet». Er spricht fliessend Algonkin, wann immer die Zeremonie es verlangt, nicht wie die Kinder, die es in der Schule zwar lernen, aber gleich wieder vergessen. Und er kennt die alten Gebetsgesänge, die man nicht aufschreiben kann, sondern immer und immer wieder hören muss. Er geht damit ans Radio.
Ob es etwas nützt? Vielleicht. Er weiss nur: Er sollte sich auf die Suche nach einem Nachfolger machen, aber es wird schwierig werden. Chief Earl Old Person sagt: «Unsere Leute machen sich nicht mehr allzu viel aus Traditionen.» Was er nicht sagt: Kein Wunder, bei so viel Gegenwart.
Kollektive Misere
Dies hier ist nicht Mainstream-Amerika. Keine manikürierten Rasenflächen, keine baumbestandenen Wohnstrassen. Stattdessen Billighäuser, Steppengras und eine quälend lange Liste von Übeln: 70 Prozent Arbeitslosigkeit, rund 30 Prozent Armut; Medikamentenmissbrauch, Methamphetamin und Alkohol; drogenkonsumierende Mütter, die dafür sorgen, dass 35 Prozent der Neugeborenen erst einmal auf Entzug müssen; eine dreieinhalbmal höhere Selbstmordrate unter Jugendlichen als im nationalen Durchschnitt. «Unser kollektives Bewusstsein ist negativ konditioniert», sagt eine Sozialarbeiterin. «Wir funktionieren nach dem Prinzip ‹Das Leben ist die Hölle›. Wir sollten endlich kapieren, dass wir für unser Leben selbst verantwortlich sind.»
Touristen sind in Browning eigentlich nur auf der Durchreise. Erstens gibt es nicht viel zu sehen, und zweitens ist der Ort manchen nicht geheuer. Janet aus Wyoming, zum Beispiel, nicht mehr die Jüngste, buchte ein Zimmer im stammeseigenen «Holiday Inn», wäre gerne etwas essen gegangen, traute sich aber nicht aus dem Haus. Sie täuschte sich. Das Glacier Peaks Casino gleich nebenan bietet 300 Klimperkästen und einen Imbiss. Sie hätte auch die paar Schritte bis zum Restaurant gegenüber von «Ick’s Place», dem Schnapsladen, gehen können, dort, wo Trinker und Streunerhunde einträchtig am Strassenrand zusammensitzen. Vielleicht hätte sie einer angehauen. Vielleicht hätte sie ihm einen Dollar gegeben. Dann hätte er sich höflich bedankt, ihr die Hand gereicht und so Sachen gesagt wie «Dominus vobiscum, this is Latin» oder «See you in the next life».
Dollarzeichen in den Augen
Zum Niederknien schön ist hier die Landschaft: Die Zacken der Rocky Mountains, «the backbone of the world», das Rückgrat der Welt, schneebedeckt schon im September; die Zitterpappel-Wäldchen am Rand der Feuchtgebiete; die sanft rollende Prärie mit ihren Bächen und Flüssen unter weitausladendem Himmel. Dieser Landstrich, gerade im Westen an der Grenze zum Glacier National Park, möchte man den Blackfeet sagen, ist euer Kapital. Wollt ihr wirklich allen Ernstes ausgerechnet hier fracken?
Nur so eine Idee: Wie wärs mit sanftem Tourismus statt brutalem Fracking? Darrell Norman, Künstler und Eigentümer des für Touristen konzipierten Tipi Village, sagt: «Zu Tourismuseinrichtungen muss man Sorge tragen. Sanfter Tourismus lebt sich ein. Das geht nicht von heute auf morgen.»
Eine Lehrerin sagt: «Die meisten unserer Leute scheren sich einen Deut um die Landschaft. Die haben nur Dollarzeichen in den Augen. Die verhalten sich wie die Weissen.» Und John McGill, Redaktor der Lokalzeitung «Glacier Reporter», sagt: «Könnten die Leute abstimmen, wäre wahrscheinlich eine Mehrheit fürs Fracking. Aus ökonomischen Gründen. Es gibt hier keine einzige Fabrik, nur das bisschen Dienstleistung.»
Hochgiftige Chemikalien
Öl und Gas werden auf Blackfeet-Land schon seit 1921 gefördert, allerdings bis vor Kurzem nach herkömmlicher Methode und grösstenteils im Osten des Reservats. Fracking hingegen ist eine relativ neue Fördertechnik, bis anhin lückenhaft reguliert, und Fracking im Westen des Reservats, dort, wo der Grizzly und der Wolf sich gute Nacht sagen, klingt nicht gerade nach weiser Voraussicht. Fracking braucht Unmengen Wasser, dazu Sand und zum Teil hochgiftige Chemikalien, von denen 60 bis 90 Prozent tief unten im Bohrloch verbleiben. Nicht auszudenken, wenn sie, wie zum Beispiel Benzol oder Naphtalin, hochsteigen und das Grundwasser kontaminieren sollten.
Nein, «they haven’t hit it big yet», die Ölfirmen sind im Westen noch nicht auf ergiebige Vorkommen gestossen. Was aber, wenn? «Dann wird der Landstrich zur Industriezone», sagt Lou Bruno. Lou Bruno lebt am westlichen Rand des Reservats, ist erfahrener Umweltschützer, aber leider ein Weisser – deshalb hat er bei den Blackfeet nichts zu sagen. Argumente liefern kann er trotzdem: «Es ist mir völlig egal, wie hoch die Arbeitslosenquote bei den Blackfeet ist. Ich sehe da keinen Zusammenhang. Wenn sie hier im Westen die Umwelt zerstören, ist es mit uns allen vorbei.»
Indianer sind gehalten, alles zu teilen, vom PC bis zur Misere.
Als der Ölmulti Anschutz im Westen nach und nach 14 Bohrlöcher frackte, hielt es Pauline Matt nicht mehr aus. Mutter Erde brauchte Hilfe. Sie ging auf Facebook und organisierte den «water walk», einen 130 Kilometer langen Spaziergang von West nach Ost, Stück für Stück, von Wasserlauf zu Wasserlauf. Es machten mit: ein Häufchen Blackfeet und unzählige Weisse, darunter Angelika Harden-Norman, die Frau von Darrell. Als der Winter mit seinen Blizzards übers Land fegte, zog sich Angelika Harden-Norman in ihr Haus zurück, trug auf einer Landkarte jeden einzelnen «frack site» ein, beschaffte sich eine Liste all der Chemikalien, die Anschutz mit Hochdruck in den Boden jagte, und erholte sich von den Strapazen der vergangenen Monate.
Es war noch nicht lange her, da hatte Anschutz ganz in ihrer Nähe zwei Ölquellen gefrackt. Und das hatte geheissen: zuerst vier bis sechs Wochen Bohrungen, dann nochmals vier bis sechs Wochen Fracking, immer rund um die Uhr; Trucks, Maschinen, Arbeiter, Lärm, Gestank und Flutlicht. Eine Grube mit verseuchtem Frack-Wasser war übergelaufen. Ihr anfängliches Wohlwollen – Öl als Schmiermittel gegen die Armut im Reservat – war dahin. Sie hatte genug. Als Anschutz Anfang dieses Jahres mitteilte, nurmehr fünf seiner Ölquellen auf Produktionsniveau zu halten, kümmerte sich Pauline Matt wieder um ihr Heilkräuter-Business.
Bis vor ein paar Monaten das Chief Mountain Fracking ruchbar wurde. Da machte sie sich erneut an die Arbeit und organisierte ein als spirituelle Zusammenkunft getarntes Protestcamp am Fuss des Berges. Diesmal kam noch zusätzlich eine stattliche Anzahl kanadischer Indianer aus den drei mit den Blackfeet verwandten Stämmen jenseits der Grenze. Die Kanadier haben schon eine ganze Weile Erfahrung mit Fracking. Die Blackfeet, so Pauline Matt, haben nur Angst vor der Obrigkeit.
Chief Mountain war ungeheuerlich: der Beweis dafür, dass die Stammesregierung für «easy money» bereit ist, noch das grösste Tabu zu häckseln. Chief Mountain, muss man wissen, ist für alle vier Stämme das, was der Berg Sinai für die Juden ist: ein heiliger Berg. Egal wie religiös einer ist: Dort frackt man nicht. Und dass die Ölfirma den Vertrag nur deshalb annullierte, weil ihr die Pauschalabgabe für die Rechte an den Mineralien zu hoch war, macht die Sache kein Jota besser. Im Gegenteil.
Wer hat mehr Macht?
Was läuft schief bei den Blackfeet? Fragt man den Journalisten John McGill, den Weissen unter den Indianern, dann sagt er: «Uneinigkeit. Sie gehen sich dauernd gegenseitig ans Leder.» Zum Beispiel: Wer ist mehr Traditionalist, wer mehr Modernist, und welcher von beiden gilt als der bessere Indianer? Oder: Wie viel Blackfeet-Blut muss einer mitbringen, um ein eingetragenes Stammesmitglied sein zu dürfen? 25 Prozent, wie heute vorgeschrieben? Oder ginge es auch mit weniger? Oder: Wer hat mehr Macht, du oder ich? Und wenn du, dann warte nur, früher oder später werde ich es dir zeigen.
Als der weisse Mann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Indianern alles genommen hatte, was er kriegen konnte, gab er den Überlebenden im Gegenzug eine Reihe vertraglich verbriefter Rechte. Diese Treaty Rights, im Zuständigkeitsbereich der Regierungsstellen Bureau of Indian Affairs und Indian Health Service, beinhalten vornehmlich ein Stück Land plus das Recht auf kostenlose Gesundheitsversorgung, Bildung und ein Bündel sozialer Dienste.
Allerdings, das stammeseigene Land ist von privaten Grundstücken durchlöchert. Spital und Schulen sind chronisch unterfinanziert. Und die sozialen Dienste erweisen sich zwar als bitter nötig, fördern aber, kombiniert mit einer Haltung des Laisser-faire, eine Kultur des kollektiven Schlendrians.
Verzwickte Lage
Eine Frau, nennen wir sie Diana, sagt: «Wenn du ein Leben lang im Reservat bleibst, hats dich erwischt. Du musst raus ins richtige Leben. Geh an ein weisses College, such dir einen Job. Solltest du hier wider Erwarten einen finden, kannst du immer noch zurückkommen.» Indianer sind gehalten, alles zu teilen, vom Computer bis zur Misere. Wer es nicht tut, den nennen sie einen «apple Indian», einen Apfel-Indianer, aussen rot, innen weiss. Oder «the crab that got out of the bucket», die Krabbe, die es als Einzige geschafft hat, aus dem Eimer rauszukommen, obwohl alle anderen sie daran hindern wollten.
Lange Zeit kümmerte sich das Bureau of Indian Affairs (BIA) um die Blackfeet wie ein Vormund um sein Mündel, meistens schlecht, selten recht, aber immer paternalistisch. 1934 verpasste Washington im Indian Reorganization Act den Blackfeet eine autokratische Regierungsform, den Tribal Business Council, den Stammesrat. Den wählen sie noch heute. Der neunköpfige Rat – zurzeit infolge heftiger interner Zwistigkeiten auf fünf Mann geschrumpft – fungiert als Legislative und Exekutive in einem, der die Richter ernennt, Verwaltungsjobs vergibt, Gefälligkeiten erweist und auch sonst bestimmt, wohin die Reise geht. Keine Transparenz. Wir hätten gerne mit dem Vorsitzenden geredet, aber er wollte nicht.
Es gibt Blackfeet, die den Obrigkeitsstaat satt haben. Für sie geht «nation building» mit einer konstitutionellen Reform einher. Eine Nation sind die Blackfeet, seit es der Indian Self-Determination and Education Act von 1975 dem Stammesrat erlaubt, sich als Regierung einer quasi-souveränen Nation zu gebärden.
Die Lage ist verzwickt. Nun sind sie für den innenpolitischen Schlamassel selbst verantwortlich. Aber alles andere als unabhängig. Denn der Blumentopf der Souveränität im Fenster kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Washington nicht nur zahlt, sondern ab und zu auch befiehlt. Im Polizeikorps mischt das FBI mit. Was tun die da? Keiner weiss es.
Auf 9 Millionen Dollar soll sich laut offiziellen Angaben das stammeseigene Budget für 2012 belaufen, davon mehr als ein Drittel aus Förderabgaben für Öl und Gas und Pipeline-Wegerechte. Das ist nicht viel, aber dank Fracking soll es mehr werden. Das grosse Geld lag bis anhin sowieso woanders: in den von den Ölfirmen bereits geleisteten Pauschalabgaben für die Rechte an den Mineralien, über deren Höhe man nur spekulieren kann. Und wie viel lässt sich Washington seine Verantwortung für die rund 9000 im Reservat lebenden Stammesmitglieder jährlich kosten? 30 Millionen, sagt einer. Weniger, sagt ein anderer. Das BIA sagt gar nichts.
Historische Missetaten
«Ich tue nur, was der Stammesrat mir aufträgt», sagt Grinnell Day Chief, der Verantwortliche für Öl und Gas. «Es hat alles seine vorschriftsmässige Ordnung.» Stimmt. Jede einzelne «frack site» benötigt einen Umweltbericht, allerdings von der Ölfirma selbst in Auftrag gegeben. Jeder einzelne Bericht muss sowohl vom lokalen BIA-Büro wie auch vom lokalen Bureau of Land Management abgesegnet werden. Kann er verstehen, dass die Glacier-Parkverwaltung sich Sorgen macht? «Ja», sagt Grinnell Day Chief, «aber das hier ist unser Land. Und mein Job ist es, etwas daraus zu machen.»
Kym Hall, stellvertretende Superintendentin des 4000 Quadratkilometer grossen Glacier National Parks, der jährlich 2,2 Millionen Besucher anzieht, hat einen Wunsch, mehr liege nicht in ihrer Macht, sagt sie: einen unabhängigen Umweltbericht, der alle «frack sites» miteinbezieht. Inwieweit werden Fauna und Flora in Mitleidenschaft gezogen? Was heisst das für Boden, Wasser, Luft und Nachthimmel?
Die lokalen Behörden seien keine Hilfe, sagt Hall, die verstünden sich als Ämter im Dienst des Stammes. Und ganz allgemein: Es wäre doch für beide Seiten ergiebiger, würde sich der Stammesrat für das Wohlergehen des Parks mitverantwortlich fühlen, anstatt bei den Gesprächen die historischen Missetaten der Weissen mitschwingen zu lassen.
Ironie der Geschichte: Die östliche Flanke des Parks gehörte früher einmal zum Reservat. 1895 kauften sie die Weissen den Blackfeet für nur 1,5 Millionen Dollar ab, weil sie dort Öl vermuteten. Als sie keines fanden, wurde daraus 1910 ein Teil des Glacier.
Die Blackfeet schauen gerne in den Rückspiegel. Oder in Anlehnung an den Schriftsteller William Faulkner: Die Vergangenheit ist nicht tot. So man will, ist sie nicht einmal vergangen.
Obamas «grüne Agenda» ist Vergangenheit
Fracking ist in den USA Staatsdoktrin. Serbelt die Wirtschaft, rückt die Sorge über Umweltschäden in den Hintergrund. Präsident Barack Obamas anfängliche «grüne Agenda» jedenfalls ist passé. Fracking verspricht billige einheimische Energie und diese wiederum tiefere Produktionspreise und somit bessere Wettbewerbsbedingungen. Kurz: Fracking soll der Industrie auf die Beine helfen.
In mehr als 30 Staaten wird derzeit nach Öl und Gas gefrackt, allen voran in Texas, Pennsylvania und North Dakota. Der Staat an der Grenze zu Kanada war nicht viel mehr als dünn besiedelte Steppe. Jetzt schuften dort Heerscharen von «roughnecks», Arbeiter in T-Shirts mit Logos wie «Earth first! We’ll drill the other planets later». Monat für Monat pumpen sie an die 22 Millionen Fass Öl aus der Bakken-Formation, die sich, anderthalbmal so gross wie Deutschland, von North Dakota über Montana und das Reservat der Blackfeet bis in die kanadische Provinz Alberta erstreckt.
Rund 33 000 zusätzliche Bohrlöcher sollen in den kommenden 15 bis 25 Jahren in North Dakota gebohrt werden. Das Bruttoinlandprodukt steigt um 9,2 Prozent jährlich, die Arbeitslosigkeit ist auf rekordtiefe 3,2 Prozent gesunken. In Williston, dem Epizentrum des Booms, kann die Miete für eine Ein-Zimmer-Wohnung bis zu 2000 Dollar pro Monat betragen, eine Stripperin kann bis zu 3000 Dollar pro Nacht verdienen. Wo gefrackt wird, verändert sich nicht nur die Landschaft, sondern auch das Leben.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 08.11.13