Frankreich will den «Dschungel» von Calais in Etappen beseitigen

Im Flüchtlingslager an der französischen Nordgrenze stauen sich mehr Migranten denn je. Die Regierung will es nun ganz auflösen. Hilfswerke sehen aber darin auch keine Lösung.

Flüchtlinge in Calais warten auf Essen: Frankreich will das Lager räumen. (Archivbild) (Bild: sda)

Im Flüchtlingslager an der französischen Nordgrenze stauen sich mehr Migranten denn je. Die Regierung will es nun ganz auflösen. Hilfswerke sehen aber darin auch keine Lösung.

Der «Dschungel», wie das wilde Flüchtlingslager ausserhalb der Hafenstadt Calais von seinen eigenen Bewohnern genannt wird, soll verschwinden. Der französische Innenminister Bernard Cazeneuve nannte am Freitag zwar keinen Termin, äusserte aber seine «grösste Entschlossenheit», den Schandfleck der europäischen Asylpolitik «in Etappen» zu beseitigen.

Der südliche Teil des Zeltlagers sei schon im Frühjahr geräumt worden, meinte der sozialistische Minister anlässlich eines Besuchs in Calais; 5528 Migranten seien in Auffangzentren ganz Frankreichs untergekommen. Für die übrigen Migranten werde die Regierung weitere 8000 Asylplätze schaffen.

Cazeneuve kündigte zudem an, er erwarte einen raschen Entscheid des Conseil d’Etat, des höchsten französischen Verwaltungsgerichtes, um die behördliche Schliessung von illegalen Verkaufsläden und Restaurants in den Dünen durchzusetzen.

Hilfswerke raten dringend ab

Hilfswerke halten eine Schliessung für unrealisierbar. Zumal die «Bevölkerung» des wilden Lagers ständig zunehme. «Ärzte der Welt» schätzt die Zahl der Gestrandeten seit diesem Sommer auf 9000, was einen neuen Höchststand bedeutet. Dazu kommen zahllose Migranten in anderen Ferry-Standorten wie Cherbourg, Dieppe oder Dünkirchen, wo irakische Kurden seit ein paar Monaten ein zweites Lager in Grande-Synthe bilden. 

Alle humanitären Organisationen befürchten, dass die Schliessung des «Dschungels» Tausende von Migranten auf die Strasse treiben würde – und dass diese von der Bretagne bis nach Belgien in den kleineren Kanalhäfen herumirren würden.



Laut dem Hilfswerk «Ärzte der Welt» sind diesen Sommer rund 9000 Migranten im «Dschungel» gestrandet.

Laut dem Hilfswerk «Ärzte der Welt» sind diesen Sommer rund 9000 Migranten im «Dschungel» gestrandet. (Bild: Keystone/Michel Spingler)

In Calais warnen Betreuer aber auch vor einer zunehmend «explosiven» Lage. Die zunehmende Sicherung der Hafenanlagen und des TGV-Bahnhofs macht den Sprung über den Ärmelkanal fast unmöglich, und die Staulage sorgt im «Dschungel» für tägliche Spannungen und Gewaltausbrüche.

Die Bürgermeisterin von Calais, Natacha Bouchart, erklärte am Freitag auch, der Regierung werde es nicht gelingen, das ganze Lager zu räumen. Im Unterschied zu den Hilfswerken verlangt sie einen sofortigen Einsatz der Armee. «Sonst werden wir hier in einem halben Jahr nicht 9000, sondern 15’000 Migranten haben», meinte die konservative Politikerin.

Regierung unter Druck

Transportunternehmen werden am Montag mit einer Sternfahrt nach Calais für bessere Schutzmassnahmen demonstrieren; Anwohner und Gewerbetreibende wollen dazu in Calais ihrerseits auf die Strasse gehen.

Diese Proteste bleiben in Frankreich vor den nahenden Präsidentschaftswahlen nicht unbemerkt. Cazeneuve ging am Freitag darauf ein und gab bekannt, er werde die Sicherheitskräfte um 200 auf 2100 Grenz- und Bereitschaftspolizisten aufstocken. Sie haben vor allem die Hafenzufahrt über die Autobahn A16 zu sichern, wo sich Migranten nachts auf die Sattelschlepper aufzuschwingen versuchen, um mit der Fähre nach England zu gelangen.

Der konservative Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy verlangt eine Neuverhandlung der Verträge mit der Regierung in London. Sie zahlt zwar Millionen an die Sicherung der Hafenanlage in Calais, überlässt aber Frankreich die Regelung der Migrantenfrage. Die Linke verweist darauf, dass diese bilateralen Verträge von Sarkozy selbst ausgehandelt worden seien.

Trotzdem ist die Regierung in Paris unter Druck. Präsident François Hollande will noch diesen September Calais besuchen; dabei gedenkt er allerdings nach jetzigem Stand nicht den «Dschungel» zu besichtigen, sondern die erneuerte Hafenanlage. 

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